Scot d'Arnd
Wenn der Winter nahte, lief kaum ein Geschäft so gut wie der Wollhandel. Man kaufte sich Decken und dicke Wolljacken, um sich vor dem kalten Wind, der bald durch die Straßen pfeifen sollte, zu schützen. In Baldurs Tor jedoch, war die Wolljacke mehr als nur nützliche Wintermode. Viel mehr war sie ein Bekenntnis. Entweder man war ein Thores oder ein Bauernbündler. Ein Städter oder ein Unterstützer des Landvolks. Grün oder grau.
Die Familie Thores gehörte zu den reichsten Familien Faerûns. Sie besaß Erzminen aller Art, Manufakturen für jedes Stück und endlose Felder, auf denen Getreide und Nutztierwuchs und gedieh. Ohne erblichen Adelstitel ausgestattet bezeichneten sie sich selbst als Geldadel. Ursprünglich aus Tiefwasser hatten sie sich rasch verbreitet, bis in jeder größeren Stadt an der Schwertküste ein Arm der Familie wirtschaftete. Die Thores von Baldurs Tor besaßen die meisten Felder und Schafe und Thyram Thores, der Herr des Hauses, beherrschte aus seiner großen Villa heraus über die Hälfte des Wollhandels der Stadt. Das reichte ihm aber nicht. Er war ein Mann Mitte vierzig, klein und galt als sehr intelligent, wenn auch ein wenig weltfremd. Seine Untergebenen beschrieben ihn als kühl und berechnend. Er sprach oft sehr merkwürdig. Auf seinen Wunsch hin, wurde jedes Stück Wolle in seinen Manufakturen grün gefärbt.
Der Bauernbund hingegen war in vielerlei Hinsicht revolutionär. Als Zusammenschluss von Schafsbauern versuchte er durch gemeinsame Preisabsprachen und Herstellung sehr erfolgreich, seinen Teil am Markt von Baldurs Tor zu verteidigen. Aus Kostengründen hatte er durchgesetzt, dass der Bund seine Kleider nicht färbte.
Viele Jahre war es mehr oder weniger gut gegangen. Mal hatte man auf den Straßen mehr grün gesehen, mal mehr grau. Insgesamt hatte es sich die Waage gehalten. Dieses Jahr aber entschied sich fast kein Geschäft mehr für Grau. In wenigen Wochen kündigten ein Dutzend Verkäufer ihre Verträge mit den Bauern und stiegen auf das Grün der Thores um. Die Bauern waren sich sicher, dass etwas nicht mit rechten Dingen vorging: Die Qualität der grünen Wolle war gleich geblieben, der Preis sogar gestiegen. Die Händler, mit denen man darüber sprach, schienen Angst zu haben und schlugen jedes noch so gute Angebot des Bauernbundes aus. Als keiner mit ihm sprach, marschierte der Bauernführer durch die Hallen des Eisenthrons und suchte Vicky Vicktory, private Ermittlerin.
Am morgen darauf begann sie mit ihren Ermittlungen. Die Bezahlung war gut, es klang nicht unbedingt nach einem Haufen Arbeit.
Schon die Befragungen der Verkäufer ergaben nichts. Das Thema der Bauernbundwolle schien für sie tabu. Egal nach welcher Masche sie es versuchte, niemand sagte ihr, warum er auf die grüne, viel teurere Wolle der Thores umgestiegen war.
Gespräche mit den wenigen Abnehmern des Grau erbrachten zwiespältige Ergebnisse. Einige waren treue Unterstützer, die lieber sterben würden, als dem Bauernbund abzuschwören – eine Behauptung, die Vicky zugegeben für gewagt hielt. Die anderen jedoch schienen auf das Thema fast genauso schlecht zu sprechen zu sein wie diejenigen, die ihre Verträge gekündigt hatten. Einige von ihnen schienen von der Tatsache, dass sie bis jetzt noch nicht gewechselt hatten, sogar peinlich berührt.
Vicky biss auf Granit. Sie hatte keine Ahnung, was die Meinung der Händler geändert hatte. Oder überhaupt, was die Meinung der Händler war. Dass es keine gute war, dessen war sie sich relativ sicher, aber das als Ergebnis ihrer Bemühungen abzutun war ihr zu wenig. Sie wollte das Gesicht des versammelten Bauernbundes nicht sehen, nachdem sie ihm mitgeteilt hatte: „Die Händler handeln eure Wolle nicht, weil sie die nicht mögen.“ Also arbeitete sie eben weiter.
Vorgestern hatte sie ihre Jungs zusammengetrommelt. Straßenjungen zwischen zehn und vierzehn, alle aufgeweckt, alle hilfsbereit, alle obdachlos. Sie hatte sie bei einem Essen gebeten, die Läden der bundestreuen Wollhändler für sie zu überwachen. Es waren einfach zu viele, als dass sie das alleine machen konnte. Natürlich bezahlte sie die Jungs ordentlich dafür.
Sie wussten, worauf sie zu achten hatten. Ausgeprägter Straßenverstand erlaubte ihnen, zu erkennen, wenn Dinge von der Norm abwichen. Deswegen tat Vicky es nicht als Zufall ab, dass alle Jungs ihr nach beiden Nächten von der dunkelroten Kutsche erzählten. Sie kam nachts, blieb einige Zeit vor den Läden stehen und fuhr dann weiter. Niemand stieg aus.
Der Mond stand schon am Himmel, als Vicky die Schublade in ihrem Schreibtisch öffnete, in welcher sie ihre Schätze aufbewahrte. Sie zog die Armbrust hervor und befestigte sie an ihrem Armgelenk, während sie ihre Habseligkeiten musterte. Dabei waren viele Gabe von Kunden, aber auch Geschenke, die ihr Verehrer damals in Sigil und auch hier in Baldurs Tor gemacht hatten. Einige waren sogar magisch. Ein verzierter Dolch, ein leerer Bilderrahmen und ein Rubin, der wie heute nur leuchtete, wenn der Verehrer in der Stadt war, fanden kurz ihre Aufmerksamkeit.
Seufzend verschloss sie die Schublade und verabschiedete sich von Mono, der müde knatterte. Als sie ihren Kontor und das pompöse Gebäude des Eisenthrons verlassen hatte, machte sie sich auf den Weg in Richtung „Merwes Wolle in alen Größen – Bauernfreund seid über hundert Jahren“, einem Händler in einem einfacheren Viertel, in dem man es mit der Rechtschreibung nicht so genau nahm. Sie hoffte, die Kutsche hier anzutreffen.
Für das unbedarfte Auge war die Straße menschenleer. Vicky entgegen erkannte in den Schatten nicht weniger als neun Obdachlose, die sich vor den kalten Winden des Spätherbstes mit Flickendecken zu schützen versuchten. Sie beachteten sie nicht.
An die Wand gelehnt und mit einer Zigarette im Mund wartete Vicky auf die Kutsche. Stunden vergingen, in denen nichts geschah. Mitternacht war verstrichen, sie hörte leises, vielnäsiges Schnarchen um sich herum. Wahrscheinlich war außer ihr keiner in der Straße wach.
Sie atmete tief durch und massierte ihre Schultern. Die Wahrheit konnte mit der verbreiteten, romantischen Vorstellung einer nächtlichen Überwachung nicht mithalten. Vielleicht kam ja keine Kutsche. Zwei Tage in Folge waren noch kein Muster. Wahrscheinlich war die Nacht verschwendet. Trotzdem würde sie bis zum Sonnenaufgang bleiben.
Dann hörte sie endlich Hufe und das Poltern von Rädern. Ihr Herzschlag erhöhte sich, ihre Hände wurden feucht, sie lächelte. Arbeit! Die dunkle Kutsche hielt vor dem Haus. Niemand stieg aus. Jetzt musste sie aufpassen. Ein Blick auf den zusammengesunkenen Kutscher, und los. Sie huschte über die Straße und rollte sich unter die Kutsche. Mit festem Griff um eine Achse, die Füße unter der anderen verankert wartete sie. Sie lauschte. Niemand sprach. Kurz hörte sie ein „Ah.“ und jemand klopfte auf Holz. Die Kutsche setzte sich wieder in Bewegung.
Vicky hasste diese Art zu Reisen. Es war laut, sie fror im Fahrtwind und jedes mal, wenn eine Pfütze im Weg war, bekam sie eine feuchte Ladung ab. Das Rappeln der Pflastersteine setzte sich in ihren Armen fort, den Griff zu halten wurde immer schwieriger. Kopfschmerzen setzten ein, als ihr Körper von selbst auf ihre dämonische Stärke zurückgriff.
Ihr Glück war es, dass „Merwes Wolle in alen Größen“ wohl die letzte Station der Kutsche auf ihrer nächtlichen Reise gewesen war. Die Kutsche blieb stehen.und sie hörte, wie jemand aus der Kutsche ausstieg. Ein paar Schuhe sprangen heraus. Sie presste sich enger an den Kutschenboden. Sie hörte das Knarren eines alten Tors, die Kutsche fuhr weiter. Unter dem Rand hinweg sah Vicky einige Kisten, sie war in einem Lagerhaus.
Als die Kutsche wieder hielt, löste Vicky ihren Griff und verschwand zwischen den Kisten. Auf der anderen Seite der Kutsche stiegen mindestens vier Männer aus, der Kutscher sprang vom Bock. Sie konnte niemanden sehen, aber sie hörte das Klingen von Ketten. Es war keine Rüstung, es klang eher nach Fesseln. Ja, unter der Kutsche hinweg sah sie, dass einer der Männer Fußfesseln trug. Niemand sprach.
Dann hörte sie einen Zauberspruch. Instinktiv umklammerte sie ihre Armbrust. Sie verstand nicht viel von Magie, aber dieser Zauber kling nach einer Illusion. Sie hatte recht. Als die Worte der Macht gesprochen waren, verblasste das Fußpaar mit den Ketten, bis es ganz verschwand. „Du kennst die Regeln, keine Mätzchen! Das gilt auch für dich.“ Eine grobe Kriegerstimme. Vicky konnte nur raten, mit wem sie sprach. Die Fußpaare setzten sich in Bewegung. Das Tor wurde wieder geöffnet, sie konnte einige kräftige Rücken sehen, jedoch keine Gesichter.
Als das Tor geschlossen war, kam sie aus ihrem Versteck. Sie hörte niemanden, das kleine Lagerhaus war leer. Die Dunkelheit war kein Hindernis für ihre Dämonenaugen. Rasch blickte sie in einige Kisten. Nachdem sie in der ersten grüne Wollspulen gefunden hatte, schien die Sache klar. In den anderen fand sie Getreide, Pfeile und Kupferschmuck. Die Sache wurde wieder verschwommen. Das Lagerhaus konnte jedem Händler gehören, es musste nicht im Eigentum der Thores stehen. Sie brauchte Papierkram.
Der Mechanismus des Bürokämmerchens war kein Gegner für ihren Dietrich. Die kleinen Aktenschränke waren leer, aber der Tisch war übersät mit Papieren. Die meisten waren alt und enthielten nur Bestandsaufnahmen. Dazwischen fand sie aber ein sehr interessantes, neues Dokument: Es war ein Dienstvertrag zwischen dem Händlerhaus Gattes und den „Geisterraben“. Ein Anhaltspunkt! Sie wusste, dass es das Händlerhaus Gattes im Grunde nicht gab, es war eine Fassade, hinter der sich die Thores versteckten. Wer die Geisterraben waren, das wusste sie nicht, aber es klang nach einem theatralischen Namen für eine Söldnertruppe. Wahrscheinlich waren die Männer in der Kutsche die Geisterraben. Was war aber ihre Aufgabe? Der einzige Anhaltspunkt war die Bezeichnung „Projekt: Dunkle Träume“. Wunderbar aufschlussreich...
Vicky durchsuchte die Schubladen des Tisches, nur die unterste war verschlossen. Sie durchsuchte das Schloss und schob den Dietrich herein.
Hitze stieg auf, Vicky stieß sich vom Tisch ab. Er stand in Flammen! Verdammt, damit hätte sie rechnen müssen! Eine magische Falle. In wenigen Augenblicken brannte das ganze Kämmerchen. Zusammen mit allen Dokumenten. Mist!
Nur raus hier. Das Tor war verschlossen. Sie sah sich um. Kein anderer Ausgang. Das Feuer breitete sich hinter ihr aus. Die Fenster! Die kletterte die Kisten hoch, hinter ihr entflammte die Kutsche. Oben angekommen sah sie: Die Fester waren vergittert! Ruhig bleiben. Das Feuer erfasste die Kisten. Ruhig bleiben! Nicht in Panik geraten!
Auf der anderen Seite der Halle. Ein offenes Fenster! Sie hatte nur die eine Möglichkeit. Sie warf ihren Mantel vor sich, erstickte einige Flammen. Konzentration! Sie nahm einen Schritt Anlauf. Sprung. Flügel schossen aus ihrem Rücken. Kopfschmerzen! Unter ihr nur Feuer. Die rettende Öffnung kam näher. Freiheit.
Sie schoss aus den Rauchschwaden und landete auf der Straße. Die Flügel verschwanden wieder. Ihre Hände auf die Knie gestemmt beugte sie sich nach vorne und atmete mehrfach tief ein. So hatte sie sich diese Nacht nicht vorgestellt. Mit dem Ärmel wischte sie sich den Ruß aus dem Gesicht und drehte sich zum Feuer um. Dort brannten alle möglichen Beweise. Die Kutsche, der Dienstvertrag, vielleicht etliche Aufträge, die in der verschlossenen Schublade gelegen hatten. Alles weg.
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„Eine meiner gewagten Investitionen hat eine erheblichen Rückschlag erlitten. Es ist sowohl Diskretion als auch Schnelligkeit gefragt, meine Stellung am Markt ist gefährdet.“ Thyram Thores flüsterte beinah. Er hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und musterte seinen Gesprächspartner. Zwar wusste er, dass dieser nicht so einfach zu lesen war wie seine Angestellten, aber er wirkte unausgeschlafen und ausgelaugt. Ein Zustand, in dem selbst dem Besten ein Fehler unterlaufen konnte.
„Von was für einer Investition sprechen wir?“, fragte der Problemlöser, der ebenfalls entspannt da saß. Er klang fast gelangweilt.
„Eine kleine, aber umso bedeutendere Investition, die sich in einer rechtlichen Grauzone. Sie ist allerdings von großer Bedeutung. Sollten eure Bemühungen keinen Erfolg haben, müsste ich zu drastische Maßnahmen greifen. Mein Unternehmen muss um jeden Preis geschützt werden.“ Thyram erkannte, wie Aramand bei diesem Satz genervt mit den Augen rollte. Wie jemand, der das schon zu oft gehört hatte. „Es ist besser, wenn Ihr nicht mehr wisst.“
„Das entscheide ich“, stellte der nur fest. Thyram erlaubte sich ein Lächeln, er mochte den jungen Mann. Er verschwendete keine Worte für überflüssiges, versteckte seine Unsicherheit nicht hinter großen Reden. Er war jemand, der den Ton angab. Thyram respektierte das.
„Nun gut“, begann er daher. „Ich habe einige Männer angeheuert, die meinen Ruf bei den Abnehmern steigen sollen. Sie benutzen eine interessante, innovative Methode. Effizient, völlig gewaltlos und nicht zurück verfolgbar.“
„Das genügt mir nicht.“
Nun war er doch ein wenig verärgert. Bezahlte er diesen Mann nicht auch für Diskretion? „Diese Männer haben besondere Expertise im Umgang mit Geistern. Ich gedachte, dies für meine Arbeit zu nutzen.“ Aramand nickte, wieder mit diesem leichten Ausdruck der Genervtheit. „In ihr Lager wurde eingebrochen, es wurde völlig zerstört.“
Aramand verschränkte die Arme vor der Brust. „Ihr wollt, dass euer kleines Projekt geheim bleibt. Das ist kein Problem. Was konntet ihr bereits über die Einbrecher herausfinden?“
Thyram zog eine magisch versiegelte Pergamentrolle aus seinem Schreibtisch und gab sie Aramand. „Das ist alles, was meine Ermittler in Erfahrung bringen konnten. Wie erwartet, widerspricht sich vieles.“ Er lächelte wieder. „Selbst eine Frau mit Flügeln soll gesichtet worden sein.“
Die Reaktion des Problemlösers überraschte Thyram. Er packte die Schriftrolle und riss sie ihm fast aus der Hand, sein Gesicht ließ für einen kurzen Augenblick ein Gefühl hervor, dass Thyram nicht genau zuordnen konnte. Interessant.
Wie erwartet überging Aramand dies geschickt, indem er aufstand. „Ich bringe euch die Informationen.“
Nur die Informationen. So so.
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Nach einer Wocher ermüdender Recherche hatte Vicky noch immer nichts über die Geisterraben herausgefunden und ihr Informant beim Händlerhaus Gattes hatte auch nichts hervorgebracht. Sie schloss daraus, dass sie Informationen unmittelbar aus dem Anwesen der Thores bekommen musste. Nur konnte sie trotz aller Bemühungen keinen Angestellten finden, der bereit war, Geheimnisse zu verraten. Auch wollte sie nach dem Brand nicht zu auffällig als Schnüfflerin in Erscheinung treten. Sie brauchte jemanden, der für sie irgendeine Verbindung zu den Thores aufbauen konnte.
Vicky kannte da jemanden.
Es war die Nacht nach dem Brand, als Vicky vor dem „Prächtigen Prahlhans“ stand, dem teuersten Gasthaus der Stadt. Hier lebte ihr Kontakt im obersten Stockwerk. Als sie jedoch versuchte, nach oben gelassen zu werden, wies ein Diener sie darauf hin, dass zu dieser Zeit die Gäste nicht gestört werden wollten. Es war auch für sie kein einfaches Durchkommen.
Der Sprung auf den obersten Balkon ging beinah schief. Eine unsichtbare Barriere, ein Abwehrzauber hielt sie ab, fast wäre sie gestürzt. Dann drang sie jedoch hindurch und ließ sich auf dem Balkon nieder. Sie lehnte sich ans Geländer und rieb sich die Schläfe. Böse, böse Kopfschmerzen. Sie wand sich zur Tür und erschrak. Da stand er schon.
Es war nicht so sehr Aramands plötzliches Erscheinen, als sein Aussehen, da sie so erschreckte. Der einst so schöne Mann hatte tiefe, dunkle Ränder unter den Augen und war bleich wie Papier. Seine Haare lehnten sich gegen ihn auf. Er sah aus, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Seine Pupillen waren geweitet. Kurz hatte Vicky das Bedürfnis, den Hexer in den Arm zu nehmen, kämpfte den Drang aber nieder.
„Was willst du hier?“, fragte er unvermittelt. Er wirkte gar nicht überrascht. Stattdessen strahlte er geradezu eine Aura der Ablehnung aus, als wäre sie ein Goblin oder ein leerer Geldbeutel. „Wenn es die Wärme eines Bettes ist, dann bist du hier falsch. Meines ist belegt. Und diese hat nicht gebissen, als wir zum Ende kamen.“ Das erklärte die Frisur. Er setzte sich auf die Liege, die auf dem Balkon stand und sah sie nicht weiter an.
Vicky schluckte. Sie hatte gewusst, dass es kein frohes Wiedersehen würde, dafür war zu viel passiert. Aber der Aramand, den sie kannte, der hatte hinter seiner Fassade immer noch eine tiefe Herzlichkeit ihr gegenüber gehabt. „Was ist mit dir passiert?“, fragte sie plötzlich. Sie war überrascht von der eigenen Frage.
„Kürzlich habe ich eine Untersuchung wegen Mordes unten in Atkatla hinter mich gebracht“, antwortete Aramand fast beiläufig und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Vicky ging an der Liege vorbei und stellte sich im gegenüber. Seine Augen waren weit geöffnet, sahen jedoch an ihr vorbei. „Wenn du aber alles wissen willst, was passiert ist, seitdem du weggegangen bist. Nun, dafür bräuchte ich länger. Und darauf habe ich keine Lust. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet: Was willst du hier?“
„Ich bin nicht gegangen“, widersprach Vicky laut und stellte sich in Aramands Blick. Kurz trafen sich ihre Augen, dann wandte er sich ab.
„Was macht das für einen Unterschied?“, erwiderte er und zuckte die Schultern. „Am Ende warst du weg. Ich war an so etwas gewöhnt. Nur von dir hätte ich es nicht erwartet.“ Vicky wollte widersprechen, er kam ihr zuvor. „Aber wenn du wirklich einen Bericht über mein freudvolles Leben haben willst: Seitdem du gegangen bist, habe ich mit Dieben, Vergewaltigern und Mördern ein Vermögen verdient, von der Ausbeutung der Armen profitiert und mehr Männer um ihre Frauen und Töchter betrogen, als selbst ich zählen kann. Dabei habe ich alle meine alten Ideale verraten.“ Er rieb sich die Augen und sah überlegend zum Sternenhimmel. „Ja, ich glaube das war mein ganzes, herrliches Leben.“ Er setzte sich wieder gerade hin. „Was willst du hier, Vicky?“
Angewidert sah Vicky auf den Mann herab, der dort lag und sich in seinem Selbstmitleid suhlte. Dies war nicht der Mann, den sie einst geliebt hatte. „Ich kannte einen Mann, der brillant und liebevoll war. Vielleicht verdiente er sein Geld mit krummen Dingern, aber das“, sie deutete abfällig auf ihn, „war er niemals.“
Aramand seufzte gelangweilt. „Wenn du meine Hilfe willst, solltest du deine Strategie ändern, Schätzchen. Das ist nicht der beste Weg, mein Wohlwollen zu erlangen.“ Er stand wieder auf und ging ins Zimmer. Kurz wollte Vicky ihm nachstürmen, ihn anschreien, besann sich dann aber, warum sie gekommen war. Sie kramte in ihrer Tasche.
Er kam wieder auf den Balkon, in seiner Hand eine Phiole, gefüllt mit einer tintenfarbenen Flüssigkeit. „Auf deine Gesundheit“, prostete er ihr zu und trank alles in einem Zug aus. Kurz ging einer kaum merklicher Schock durch seinen Körper.
„Ein Träumertrank?“, fragte Vicky überrascht. „Seit wann nimmst du den?“ Der Träumertrank war ein starkes Mittel gegen den Schlaf. Der Name kam daher, dass er meist von Träumern genommen wurde, die ihren nächtlichen Heimsuchungen entkommen wollten. Überraschender als das war jedoch fand Vicky aber die Feststellung, dass sie sich noch immer um ihn sorgte.
„Lang genug“, erwiderte Aramand nur, ließ die Phiole auf die Liege fallen und lehnte sich gegen die Brüstung. Wieder sah er sie nicht an.
Was war mit ihm passiert? Wer war dieser Mann? Wann hatte er sich selbst verloren? Vicky wollte ihn daran erinnern, wer früher gewesen war. Sie zog den hell leuchtenden Rubin aus ihrer Tasche. „Erinnerst du dich hieran?“, fragte sie.
Aramand sah über seine Schulter hinweg den Juwel lange an. Für den Hauch eines Augenblicks glaubte Vicky Sehnsucht in seinen Augen zu sehen. Dann aber lachte er hämisch auf und wand sich wieder ab. „Kaum zu glauben, dass ich einmal so jung war.“ Es klang sehr überzeugend, aber Vicky fühlte, dass er das anders meinte. Und sie bekam Recht, denn er seufzte und sagte: „Sag mir, was du willst. Vielleicht kann ich dir helfen.“
Und Vicky erzählte von ihrem Auftrag, ihren Erkenntnissen, dem Feuer und der Notwendigkeit, Informationen aus dem Anwesen der Thores zu holen. Die ganze Zeit über sah Aramand mit ausdrucksloser Miene in die Ferne. Als sie fertig war, schwieg er lange. Sie sah ihn erwartungsvoll an.
„Die Thores sind eine der mächtigsten Institutionen auf Faerûn, ganz zu schweigen davon, dass ich in Tiefwasser und Niewinter bereits für sie gearbeitet habe. Und du willst, dass ich dir helfe, geheimste Informationen aus ihrem Anwesen zu beschaffen, ein mögliches Verbrechen aufzudecken und damit ihrer Konkurrenz zu helfen. Einer Konkurrenz, die wahrscheinlich nicht mal in der Lage wäre, mich dafür zu bezahlen?“ Er seufzte. „Nenne mir einen guten Grund?“
Bereits jetzt war sich Vicky sicher, dass Aramand ihr helfen würde. Aber eine Sache war da noch. „Ich habe auf dieser Ebene niemanden getroffen, der es mit deiner Zauberkraft aufnehmen kann“, begann sie daher. „Und dennoch war es mir ein Leichtes, durch deinen Schutzzauber zu kommen. Das passiert dir nicht unbeabsichtigt.“ Sie legte den roten Rubin auf das Geländer. „Ich bin in meinem Kontor.“ Sie hüpfte über das Geländer, hielt sich aber noch einen Augenblick fest. „Irgendwann tun wir alle Dinge, die uns verfolgen. Aber es werden auch wieder hellere Tage einbrechen.“ Ihr Sprung nach unten war deutlich einfacher.
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Vicky schlief zur Hälfte auf dem Tisch liegend in ihrem Kontor. Die Sonne war schon lange aufgegangen. Nach ihrem Besuch bei Aramand hatte sie noch lange weitergearbeitet, bis schließlich ihre Augen zugefallen waren. Mono stand zwischen den verschiedensten Papieren auf ihrem Tisch und wachte über sie. Er hüpfte hoch in die Luft, als fünf kräftige Schläge die Tür erschütterten. Sie sprang jäh auf, die Hand an ihrer Armbrust. Wieder klopfte es. Sie fuhr sich müde durchs Haar und öffnete die Tür. Dort stand Aramand.
„Mach dich fertig, wir gehen“, befahl er ihr und schob sich durch die halb geöffnete Tür. „Ich habe jemanden gefunden, der uns helfen kann. Er trifft uns gegen Mittag am Hafen. Ein gefährlicher Mann, er hat schon für die Thores gearbeitet. Er wird uns helfen können.“ Aramand roch nach Salzwasser und Fisch, er war schon am Hafen gewesen.
Vicky eilte zum Tisch. „Ein gefährlicher Mann sagst du? Woher kennst du ihn?“, wollte sie wissen.
„Ich und er haben in Tiefwasser zusammengearbeitet“, erklärte Aramand rasch. „Er ist clever, aber paranoid. Die wirst du nicht brauchen.“ Vicky wollte gerade ihre Armbrust befestigen.
„Du sagtest, er wäre gefährlich.“
„Siehst du mich ein Schwert tragen? Wenn er bemerkt, dass wir bewaffnet sind, dann hilft er uns nie.“ Sie warf ihm einen zweifelnden Blick zu. „Vertrau mir, ich werde schon auf dich aufpassen. Nimm das da mit.“ Er deutete auf Mono. Was sollte das denn jetzt? Sie nahm Mono nie auf Außeneinsätze mit. Irgendwas war faul.
„Da ist doch irgendwas faul“, warf sie Aramand daher vor. „Erst sagst du, er sei gefährlich. Dann sagst du, ich brauche keine Waffe. Dann soll ich Mono mitbringen? Soll ich vielleicht noch meine Flügel ausbreiten, damit wir beide zum Hafen fliegen können?“ Dennoch warf sie sich eine dicke Weste und ihren Hut über und versteckte Mono gemütlich in einer Brusttasche.
„Alles wird sich erklären, wenn wir ihn treffen“, behauptete Aramand daher. So gehetzt hatte sie ihn noch nie gesehen. Es war mehr als bloße Eile, er verheimlichte etwas. Jedes mal, wenn sie woanders hinsah, spürte sie ihren Blick auf sich ruhen. Als wollte er sich vergewissern, dass sie noch da war. Es konnte nichts bedrohliches sein, sie wusste, dass er ihr nie etwas antun würde.
„Wir können gehen.“
Als sie eine halbe Stunde später am Hafen eintrafen, herrsche bereits reger Betrieb. Jetzt, wo der Winter nahte, brachten die Reedereien ihre letzten Fahrten hinter sich, ehe die Reise auf dem Meer zu gefährlich würde. Sie folgte Aramand, der durch die Menge hetzte, nach etwas Ausschau hielt. Da sie glaubte, jeden mit Einfluss im Hafenviertel zu kennen, dachte sie, dass Aramand nach einem Schiff suchte. Er fand es und rannte hinüber zu einem Dreimaster.
Der Steg, an dem das Boot lag, war erstaunlich leer. Die Kisten waren schon verladen, die Mannschaft schon an Bord. Es war bereit zur Abfahrt. Nur ein paar kräftige, bewaffnete Kerle standen an der Zugangsbrücke. Sie erkannten die beiden und kamen langsam auf sie zu.
„Vicky?“ Etwas in seiner Stimme gefiel ihr gar nicht.
„Was ist?“
„Als du sagtest, es werden hellere Tage anbrechen, hast du das so gemeint?“ Sie sah zu ihm, zum ersten Mal sah er nicht weg. Etwas neues fand sie in seinen Augen. Traurigkeit. „Kann man sich für das Leben, das man geführt hat, vergeben? Egal, wie schlimm es war?“
„Wieso fragst du mich das?“ Hier und jetzt? Sie sah sich um. Die Männer sahen nur sie an. Sie warf einen Blick über die Schulter. Zwei weitere hatten sich aus der Menge gelöst und kamen von hinten. Sie trugen Holzschläger. Das war eine Falle. „Aber -“, sie brach ab und sah Aramand entsetzt an. Er hatte keine Angst, er war nicht einmal überrascht. Da war nur diese tiefe Traurigkeit. „Warum hast du das getan?“, keuchte sie, als die Männer immer näher kamen. Der Mann, den sie geliebt hatte, sah sie an. Er hatte sie verraten.
„Du wirst es verstehen.“
Kräftige Griffen umschlangen ihre Arme, sie kämpfte, als man sie zum Schiff zerrte. „Ich werde dich umbringen“, schrie sie mit aller Kraft. „Ich werde dich umbringen! Es gibt keine Vergebung für dich.“ Aber als sie ihre Macht entfesseln wollte, traf sie ein Zauber. Und sie fiel in tiefen Schlaf.
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Sie wachte wieder auf, weil Mono auf ihrer Brust herumhüpfte. „Was zum...?“ Das erste, was sie bemerkte, war, dass der Boden sich bewegte. Dann war der Geruch von Holz, nassem Holz und Salzwasser. Sie war auf einem Schiff. Als sie sich umsah, erkannte sie, dass die auf dem Boden einer Zelle im Rumpf eines Schiffes lag. Ihre Arme waren am Boden festgekettet. Sie zog kräftig an ihren Ketten, aber nichts geschah. „Alles klar?“, fragte sie ihren kleinen Begleiter. Dieser legte den Kopf quer und knatterte unglücklich. „Keine Sorge, wir kommen hier schon raus.“
„War ihnen ein Gast nicht mehr genug?“, hörte sie eine Stimme sagen. Rasch sah sie sich um. Dort, eine Zelle weiter, saß ein Mann im Schatten. „Oder haben sie dich auch schon länger benutzt?“ Die Stimme des Mannes war dunkel. Er sprach wie jemand, dem alles egal war. „Nein. Ihr seid zu lebhaft. Seid nicht gewohnt, gefangen zu sein.“ Er seufzte. „Das geht schneller als man glaubt.“
„Ich hab schon oft tief drin gesteckt. Das hier ist auch nur ein kurzer Rückschlag.“ Vicky gab sich trotzig, aber war in Wirklichkeit überhaupt nicht so zuversichtlich. Sie spürte, dass sie irgendetwas ihre Fähigkeiten blockierte. Diese verräterische Schlange musste sie vor ihr gewarnt haben. Beim Gedanken an Aramand verkrampften sich ihre Eingeweide vor Wut, sie schrie beinah.
„Drauger, warum hilfst du dieser lieben Dame nicht etwas? Sie scheint es eilig haben, von diesem Boot runterzukommen.“
„Mit wem -?“, begann Vicky, aber die Worte blieben ihr im Mund stecken. Mono sprang auf und kullerte von ihr runter. Über ihr stand eine Gestalt. Sie war fast durchsichtig, leuchtete schwach. Man erkannte fast nichts, nur dass sie wohl männlich war. Ein Geist! Die Gestalt beugte sich zu ihr runter, da lösten sich auch schon ihre Fesseln. Vicky griff nach Mono und rutschte dann auf ihrem Hosenboden von der Gestalt weg. Dann kam sie sich albern vor.
„Das ist Drauger“, erklärte der Mann aus dem Schatten heraus. „Er ist der Grund, weshalb ich hier bin. Danke, Drauger.“ Der Geist machte eine höchst schwungvolle Verbeugung vor Vicky, sprach aber nicht. „Er ist nicht der redseligste. Nicht mit anderen jedenfalls, ich krieg' keine Ruhe vor ihm.“
Sie sah Drauger misstrauisch an, stand dann aber auf und sah sich die Gestalt genauer an. Er schien damit kein Problem haben. „Du bist ein Geist, oder?“, fragte sie dann. Die instinktive Furcht war der Neugier gewichen.
Drauger zuckte mit den Schultern. „Ach was, tu nicht so“, fauchte der Mann. „Du weißt genau, dass du ein Geist bist. Nein, ich sag ihr nicht, dass sie komisch aussieht. Sie hat keine Flügel, was soll das?“ Vicky errötete, doch der Mann konnte das nicht sehen. „Oh, sicher? Das passt ja, warum sollten die auch eine einfache Frau einsperren. Bist'n Dämon, oder?“
„Ja.“ Sie sah keinen Sinn darin, zu lügen. Sie war mit diesem Mann eingesperrt. Wahrscheinlich war er die einzige Hilfe, um zu fliehen. Auch wenn er nicht besonders enthusiastisch wirkte. „Sag mal, warum hat man euch eigentlich eingesperrt.“
„Weil Drauger ein Idiot ist, deshalb“, antwortete er. „Musste sich unbedingt in einer Kneipe in Beregost enttarnen, als wir auf dem Weg nach Atkatla waren. Nein, sich vorzustellen war keine gute Idee, du Trottel! Mir ist völlig egal...“ Vicky sah Mono mit fragendem Blick an, der ratterte zurück. „Auf jeden Fall hat man uns dann gefasst. So ein Haufen Söldner haben mich gepackt, einer hat Drauger verzaubert. Sie haben – ja verdammt, ich bin gerade dabei.“ Drauger gestikulierte in Richtung Schatten. „Auf jeden Fall haben sie uns mitgenommen. Deren Zauberer ist so eine Art Nekromant. Hat mich und den Idioten hier verzaubert. Sobald er sich mehr als dreißig Fuß von mir entfernt, geh ich drauf und er wird gebannt. Ist Mist.“
„Und was sollte das?“, fragte Vicky. Sie hatte begonnen, die Zellengitter nach Schwachstellen abzusuchen. Aber sie fand nichts, was sie ohne dämonische Kraft durchdringen konnte.
„Jetzt haben sie uns beide in der Mangel“, sagte der Mann und Drauger nickte eifrig. „Sie wollen, dass Drauger für sie arbeitet. Kann auskundschaften, kann stehlen und so. Macht er nicht gern, aber wir wollen auch nicht draufgehen.“ Er räusperte sich. „Also, ich nicht. Was immer mit ihm passiert.“
„Und was habt ihr mit den Thores zu tun?“
„Keine Ahnung, wer das ist“, sagte er und Drauger zuckte mit den Schultern. „Ich hör nur Geisterraben hier, Geisterraben da. Er hat auch keine Ahnung.“ Der Geist schüttelte den Kopf. „Wer sind die Thores?“
„Wollhändler“, antwortete Vicky. „Ich wurde bezahlt um herauszufinden, warum so viele Kunden plötzlich bei ihnen kaufen, nicht mehr beim Bauernbund.“
„Ah, das macht – ja, verdammt, ich seh' selbst, dass das Sinn macht“, rief der Mann. „Das war nämlich unser Auftrag. Er hier sollte ein guter Geist sein und spuken. Mensch, das war ein Scherz, ich weiß, du machst das ungern.“ Drauger hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sich trotzig von der anderen Zelle abgewandt. „Was soll's. Sie haben uns halt, also machen wir, was sie sagen. Er hat bei den Händlern gespukt, bis sie ihre Wolle gewechselt haben.“
Vicky klappte der Kiefer runter. „Ihr solltet spuken, damit die Händler wechseln? Das ist ja nur lächerlich.“
„Das haben die Ladenbesitzer anders gesehen“, sagte der Mann, Drauger ließ traurig seinen Kopf hängen. „Ja, es tut dir Leid. Tut's dir auch Leid, dass wir deinetwegen hier feststecken?“ Er seufzte laut. „Gewöhn' dich dran, du bist ein Geist. Spuken ist deine Aufgabe, du Anfänger.“
Aber Vicky hörte kaum zu. Jetzt machte das alles Sinn. Niemand würde zugeben, dass er wegen Geistern andere Wolle kaufen würde. Das wäre zu lächerlich. Auch hinterließ der Geist keine Spuren. Es war brillant. Wahrscheinlich war es sogar Aramands Idee gewesen.
Aramand, dieser schleimige Dreckskerl. Warum hatte sie es nicht kommen sehen? War alles, was er ihr gezeigt hat, Fassade? Ja. Er hatte ihr nur vorgespielt, schwach zu sein. Er hatte ihr nur vorgespielt, dass sie ihn überzeugt hatte. Alles war Teil seines heimtückischen Plans gewesen. Sie musste ihn dafür brennen lassen!
Ein Knall riss sie aus den Gedanken. Sie hörte Schreie auf Deck. „Piraten!“ Das würde nicht gut enden.
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Thyram wirkte auf Aramand müde und getrieben. Ein allzu bekannter Anblick. „Nein, Euch mache ich natürlich keine Vorwürfe“, hatte er gesagt, als Aramand das Arbeitszimmer des Mannes betreten und seine Bezahlung gefordert hatte. Ein Piratenangriff auf ein bewaffnetes Söldnerschiff war schließlich weit, weit außerhalb seines Einflussbereichs. Er widerstand dem Wunsch, zu schmunzeln.
„Natürlich gibt es Dinge, auf die Ihr keinen Einfluss habt“, sagte er und versuchte, mitfühlend auszusehen. Er wusste, dass es ihm nicht gelang. „Eine höchst unglückliche Verkettung von Umständen. Was denkt ihr, haben die Gefangenen mit den Piraten ausgehandelt? Selten sieht man solche Schiffe in Baldurs Tor anlegen.“
„Ich weiß es nicht“, sagte der Thores ermattet und warf dabei die Arme in die Luft. „Ich weiß nur, dass... Ich weiß es wirklich nicht.“
Als vor einigen Tagen die „Wellenhäscher“ von Kapitän Rowspar im Hafen von Baldurs Tor angelegt und Vicky zusammen mit einem Mann namens Cathwulf von Bord gegangen war, hatte sie damit eine Reihe von Ereignissen in Bewegung gesetzt, welche den Wollmarkt der Stadt für Jahrzehnte verändern sollte. Einige erstaunliche Neuigkeiten waren ans Licht gekommen. Es kam soweit, dass ein wütender Mob vor den Toren des Anwesens auftauchte,mit einem Strick winkte und den Herren der Thores forderte. Sie trugen alle graue Wolle.
Aramand zuckte die Schultern und stand auf. „Ich denke, ich gehe nun. Ich vermute, meine Bezahlung wurde bereits verladen?“ Thores nickte und betrachtete dabei nur seine Hände. „Ausgezeichnet. Ich verabschiede mich.“
Er ließ das Anwesen der Thores hinter sich und ging herunter zum Hafen. Er schuldete Kapitän Rowspar noch etwas zu trinken. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel, es war sehr kalt. Aramand atmete tief ein. Er musste sich außerdem noch bei jemandem entschuldigen. Wie würde sie wohl reagieren? Der Rubin leuchtete in seiner Tasche. Sie würde ihm schon verzeihen. Mit den dunklen Träumen war es vorbei.