Sheera Li
An diesem Morgen schaffte es die Sonne nur mit Mühe sich den Weg durch dichte Nebelschwaden zu kämpfen. Die Wiesen waren feucht vom Tau und Mjinn hatte die Vermutung, dass sie über den Tag wohl nicht trocknen würden.
Auf ihrer Wanderschaft hatte es sie in eine ländliche Gegend verschlagen. Seit Tagen zog sie nun schon von Hof zu Hof, wanderte über Äcker, die nach frisch gemähtem Heu dufteten und sah Bauern bei der Ernte zu.
Auf einem Hof hatte sie bei der Geburt eines Kalbes geholfen und war mit einem Schlafplatz und einer guten Mahlzeit entlohnt worden. Auf einem anderen Gehöft war sie bei der Apfelernte eingesprungen. An ihrem Lohn dafür würde sie noch eine gute Weile zu essen haben.
Gedankenverloren strich Mjinns Hand über den Beutel, den man ihr prall gefüllt mitgegeben hatte.
Feldarbeit machte ihr Freude. Pflanzen aufzuziehen, sie mit allem zu versorgen was sie brauchten und dann ihr Dasein zu ehren, indem man sie zu einem Teil von sich werden ließ. Mjinn liebte das Essen. Auch wenn sie nie viel zu sich nahm, genoss sie doch jeden Bissen und dankte innerlich einem höheren Wesen, welches ihr diese Mahlzeit geschenkt hatte.
Mit einem Gefühl der Zufriedenheit schlug Mjinn die Augen auf und blickte über den im Nebel liegenden See. Ihre Meditation beendete sie mit einem Bad und setzte sich danach noch einmal ans Ufer. Ihr Blick ruhte auf ihrem Spiegelbild im Wasser. Ihr fiel auf, dass, obwohl kein Wind wehte, ihr Spiegelbild dennoch von kleinen Wellen verzerrt wurde.
Niemals ruhig, ständig zerrissen, dachte sie wehmütig.
„Warum ist das nur so?“ fragte sie das Spiegelbild.
„Damit du lernst.“ antwortete es.
„Damit ich was lerne?“ Mjinn runzelte die Stirn. Das Spiegelbild tat es ihr gleich.
„Innere Ruhe muss nichts mit deinem Körper zu tun haben. Du kannst dich bewegen, springen und rennen soviel du willst und trotzdem innerlich ruhig sein.“
Mjinn starrte auf ihr Spiegelbild, den Mund leicht geöffnet vor Überraschung.
„Andersherum kannst du äußerlich ruhig erscheinen, innerlich aber aufgewühlt und zerrissen sein.“ Das Spiegelbild lächelte.
„Das hast du aber gut gelernt. Ich höre den Meister reden.“ Mjinn wandte sich ab und stand auf. Sie wusste, sie hatte sich die Worte des Meisters in Erinnerung gerufen. Aber ihr Gedächtnis war lückenhaft. Etwas fehlte in dieser Weisheit. Diese Ungewissheit nagte an Mjinn.
„Gleich Morgen werde darüber nachdenken. Dann wird es mir schon wieder einfallen. Gleich Morgen.“
Und mit einem letzten Blick auf die Wasseroberfläche fügte sie hinzu: „Und gleich danach höre ich mit den Selbstgesprächen auf!“
Im Laufe des Tages verzog sich der Nebel zwar, die Sonne aber wollte sich immer noch nicht so recht blicken lassen. Mjinn wanderte weiter und grübelte über die Worte des Meisters nach. Er hatte die Lektion damals mit. „Erkenne dich selbst!“ eröffnet. In ihrer Erinnerung hörte sie sich lachen, wie alle jungen Novizen, denen zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar gewesen war, was dies bedeutete. Der Meister war schon immer alt gewesen. Solange sie zurück denken konnte, war er alt und ein bisschen exzentrisch. Genau wie seine Aufgaben.
Vor drei Prüfungen hatte er ihnen damals gestellt. Eine für den Geist, eine für die Seele und eine für den Körper. Es war nach ihrer geistigen Prüfung, dass er jene Worte gesagt hatte. Mjinns Schritte wurden langsamer.
In ihrer Erinnerung sah sie den Raum noch genau vor sich. Gesichtslose Menschen saßen in dunkle Kutten gehüllt in einem Stuhlkreis. Sie wusste nicht mehr, wie sie in den Raum gekommen war. Sie war plötzlich mittendrin. Schnell setzte sie sich auf einen der freien Stühle in dem Kreis aus gesichtslosen Menschen. Voller Spannung wartete sie ab. Noch wusste sie nicht, was von ihr in dieser Prüfung verlang wurde.
„Hallo, bist du neu hier?“
„Oh jemand Neues!“
Mjinn schreckte hoch. Zwei der Gestalten hatten fast gleichzeitig gesprochen. Sie konnte nicht erkennen, welche.
„Neulich bin ich auch wieder von so einem angequatscht worden.“
Mjinn fuhr herum. Die Stimme kam eindeutig von der Person neben ihr. Aber sie hatte keinen Mund. Woher kam die Stimme?
„Hallo Mjinn!“
„Hi Mjinn!“
„Herzlich Willkommen Mjinn.“
Mjinn Hände krallten sich in ihren Stuhl. Wer waren die Leute? Warum kannte sie hier jeder?
„Ja kennt man ja.“
„Du magst Person X nicht?“
„Warum schwebst du denn?“
„Elohel.“
„Ich hätte das ganz anders gemacht. Immerhin wird da nicht verraten was so passiert.“
Die Gestalten redeten fast alle gleichzeitig. Mjinn schwirrte der Kopf. Dies war eine Prüfung für den Geist. Sollte sie allen Gesprächen gleichzeitig folgen können?
„Ganz schön stumm unser Neuling.“
„Mjinn, sag mal was.“
„Hallo.“ Hörte Mjinn sich sagen.
„Thx.“ Kam es wieder von der Gestalt neben ihr.
„Hast du grade tee ha icks gesagt?“
Stimmengewirr und Geschnatter setzte ein. Mal hörte Mjinn hier einen Satzfetzen, mal folgte sie einem anderen Gespräch. Die Gestalten redeten ohne Pause und ohne ersichtlichen Zusammenhang. Aber diejenigen, für die ein Satz bestimmt war, schienen das zu wissen und darauf zu reagieren.
Aber nicht immer. Plötzlich schwoll eine der Gestalten auf das doppelte der Größe an und schrie: „Was hast du gesagt? Das will ich mir doch verbitten!“
Aus einer anderen Ecke ertönte: „Dich meinte ich ja auch gar nicht.“
„Ich doch auch nicht. Ich rede mit dem da hinten.“
Eine andere Gestalt mischte sich ein. „Was? Aber ich kenn dich doch gar nicht!“
Immer mehr Stimmengewirr erfüllte die Luft. Jetzt schienen sie nicht mehr einträchtig vor sich hinzureden. Wilde Beschimpfungen flogen quer durch den Raum. Mjinn sank in ihren Stuhl. Sie wollte nur noch weg. Innerlich verfluchte sie den Meister für diese Prüfung.
Jede der Gestalten schwoll plötzlich auf das doppelte der Größe an.
Noch bevor Mjinn etwas sagen konnte machte es: Plopp.
Eine der Gestalten war verschwunden.
Plopp, plopp, plopp.
Nur noch 3 schwarze Gestalten, ganz plötzlich still geworden, standen im Raum.
„Channelsplit?“
„Ich denke schon.“
„Was nun?“
„Och, der Op ist auch raus, Party!
“
Mjinn hörte das Lächeln in der Stimme deutlich heraus.
„Ich gehe dann mal.“ murmelte sie verwirrt und verließ den Raum auf dem gleichen Weg, wie sie hineingekommen war.
Mjinn schüttelte sich bei ihrer Erinnerung an diese Prüfung. Der Meister hatte ihr nie verraten, was genau er geprüft hatte. Ihren Geist, ja. Aber wie?
Tief in Gedanken versunken, hörte sie das Knurren erst beim zweiten Mal.
Nur ihr Instinkt ließ sie einen Schritt nach hinten machen. Wenige Zentimeter vor ihr, klappte ein gewaltiger Kiefer zusammen. Dort, wo sich noch Augenblicke zuvor ihr Hals befunden hatte. Mjinn nahm aus den Augenwinkeln blutrote Lefzen wahr. Geifer spritze. Es stank nach Verwesung.
Ein Sprung brachte sie außer Reichweite des Tieres. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Es war ein Wolf, größer als alle Wölfe, die sie bisher gesehen hatte. Er lief auf zwei Beinen und starrte sie mit gelb-glühenden Augen an. Das Fell war zottelig und feucht.
Eine große Wunde klaffte auf der Brust. Stetig sickerte Blut daraus hervor und verteilte sich im hellbraunen Fell. Mjinn sah der Bestie in die Augen. Sie waren verschleiert von Schmerz.
Das Untier taumelte und ließ sich auf alle Viere nieder. Ein Knurren entwich der Kehle. Ein Knurren, dass sich fast wie ein klagender Schrei anhörte.
Mjinns Finger zuckten und fast hätte sie sich hinreißen lassen, Mitleid zu empfinden.
Die Bestie war verwundet, ohne Frage. Dem Tod geweiht. Mjinn spürte das.
Durch den Schleier aus Schmerz und Wahnsinn in den Augen dieses Wesen, glomm ein Funken Intelligenz. Das Wesen wusste es ebenfalls.
Noch einmal fletschte es die Zähne und knurre Mjinn an, ehe es jäh kehrt machte und in den nahen Wald preschte. Eine Blutspur und aufgewühlte Erde war alles, was es zurück ließ.
Vorsichtig schritt Mjinn durch die Höhle. Sie versuchte, keine Geräusche zu machen und doch hallten ihre sanften Tritte leise nach.
Mit einer improvisierten Fackel aus Baumharz und Stofffetzen leuchtete sie sich den Weg. Stunden hatte sie damit zugebracht die Blutspur der Bestie bis in diese Höhle zu verfolgen.
Aus welchem Grund wusste sie selbst nicht. Etwas in den Augen des Tieres, es musste ein Tier sein, dessen war sie sich jetzt sicher, hatte sie gebeten. Hatte sie angefleht.
Mjinn runzelte die Stirn.
Ein leises Röcheln ließ sie aufschrecken. Dort war etwas. Kurz außerhalb des Lichtscheins, den die Fackel warf. Ein Röcheln und ein heiseres Lachen.
„Du bist tatsächlich…hierher gekommen.“ Die Stimme war rau und trotzdem als die einer Frau zu erkennen.
„Dummes Menschenkind.“
Mjinn hielt ihre Fackel ein Stück höher. Die Umrisse eines mächtigen, pelzigen Untieres schälten sich aus den Schatten heraus. Sprachlos vor Entsetzen starrte sie das Wesen an. Unfähig irgendetwas zu sagen.
„Deine Abscheu…steht dir ins Gesicht..geschrieben.“ Sie keuchte und holte rasselnd Luft.
Mjinn fand ihre Worte wieder.
„Was bist du?“
Ein Knurren entwich der Kehle des Wesens.
„Ich bin Skeira.“
Der Unterton ließ keine Zweifel daran aufkommen, dass es irgendeine andere Antwort auf diese Frage hätte geben können.
Skeira taumelte einen Schritt nach vorn. Mjinn sah, dass sie, was immer sie sein mochte, sehr geschwächt war. Die Wunde hatte sich nicht geschlossen. Unaufhörlich sickerte Blut hervor und verklebte das Fell.
Noch ein Schritt.
„Und ich will…dass das so bleibt.“
Mit einem heftigen Prankenhieb schlug sie jäh auf Mjinn ein.
Mjinn ließ den linken Arm nach oben schnellen. Die Fackel fiel zu Boden.
Wie in Zeitlupe prallte die Pranke auf ihren Arm. Nicht blocken! Sie machte einen Schritt nach vorn. Der Angriff ging ins Leere. Skeira fuhr herum.
Mjinn sah ihr fest in die Augen.
„Du musst das nicht tun! Vielleicht kann ich dir helfen.“
Skeria schnaubte höhnisch. „Dann hilf mir!“ Ihre Lefzen verzogen sich zu einem wölfischen Grinsen.
Mjinn sah sie nur an.
„Nicht so.“ sagte sie. In ihrem Blick lag ein wenig Bedauern.
Skeiras Grinsen gefrohr auf ihrem Gesicht.
„Dann…zwinge ich dich.“ Skeira fletschte die Zähne.
Mjinn preschte los. Ihre Augen auf einen Punkt irgendwo auf Skeiras Hals geheftet.
Alles wahrnehmen. Unter den Pranken hinwegducken.
Mjinn packte Skeiras linken Arm. Im Bruchteil einer Sekunde verschränkte sie ihre Finger mit denen des Untiers. Dann drehte sie sich um sich selbst. Mit ihrem Oberkörper blockierte sie das Ellenbogengelenk.
Es hätte ein Tanz sein können.
Ein schmerzhafter Tanz.
Skeira brüllte auf und hielt sich den abstehenden Arm. Er war gebrochen.
Sie war rasend vor Wut. Ein roter Schleier legte sich über ihre Augen. In blindem Zorn sprang sie los.
Mjinn ließ sich fallen, stieß sich mit den Händen vom Boden ab und glitt unter den Werwolf. Mit beiden Händen schlug sie der Kreatur gegen den schutzlosen Unterleib. Sie legte alle Kraft in ihre Fingerspitzen und versuchte den Punkt zu treffen, der selbst Orks bewusstlos werden ließ. Noch bevor Skeira realisieren konnte, dass sie jetzt von unten angegriffen wurde, fühlte sie einen scharfen Schmerz durch ihren Körper fahren. Ihre Kiefer schnappten zu. Dann prallte sie wie gelähmt gegen die Höhlenwand und blieb wie leblos liegen.
In der Höhle war es jetzt unwirklich still. Mjinn lag auf dem Rücken und atmete schwer. Dann rappelte sie sich auf.
Der massige, fellige Leib, der bewegungslos auf dem Boden lag, schrumpfte zusehends. Skeira wurde zu einer Menschenfrau. Mjinn sah die Umrisse von Händen, Beinen und Kopf. Und die große Wunde, die nach wie vor auf ihrer Brust prangte. Viel zu groß für den schmächtigen Leib.
Vorsichtig trat sie auf die nun scheinbar wehrlose Frau zu. Sie horchte auf Atemzüge. Ganz leicht nur, hob und senkte sich Skeiras Brust.
Mjinn sank an ihrer Seite vorsichtig auf die Knie. Mit einer zärtlichen Geste strich sie Skeira eine Haarsträhne aus der Stirn. Mit der anderen Hand fuhr sie unter ihren Kopf und bettete ihn auf ihrem Schoß.
Lange Zeit sah sie so auf die junge Frau hinunter.
Das Licht der hingeworfenen Fackel wurde schwächer. Skeiras Umrisse wurden dunkler.
„Möge dies kein Fehler sein.“ flüsterte Mjinn.
„Wisse, alles Leben ist eins. Und alles ist im Wandel.“ Sie drückte Skeira fester an sich. Die letzten Zuckungen der Fackel warfen spielerische Schatten an die Höhlenwand.
Dann erlosch sie ganz.
Ein lautes Knacken echote durch den Raum.