[Schreibwettbewerb - Runde III] Micha / skull

Wer hat die bessere Geschichte geschrieben?

  • Micha

    Stimmen: 4 33,3%
  • skull

    Stimmen: 8 66,7%

  • Umfrageteilnehmer
    12
  • Umfrage geschlossen .

Enigma

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Enigma

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Micha

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Ein großer Fehler


~~~ oOo ~~~​


"Vicky Vicktory, Tochter des Varg Vicktory, Angehörige der Legio V.! Du wirst für schuldig befunden, ein Wesen verletzt zu haben, dass sich der Gunst der Dame erfreut. Auf dieses Verbrechen steht seit jeher der Tod, -"

Einen Günstling der Dame? Wie konnte... "NEIN!" - Während Vicky nur ungläubig und mit offenem Mund auf ihrer Bank sitzen konnte, war ihr Adoptivvater hinter ihr aufgesprungen.

"DAS KÖNNT IHR NICHT MA-" - der Rest des Satzes wurde von einem schmerzerfüllten Keuchen verschluckt, als der stämmige Krieger unter einem Blitz zusammenzuckte, der sich aus dem Stab des Richters gelöst hatte. Sofort darauf standen zwei Wächterkonstrukte links und rechts von ihm und drückten den Anführer des Nachrichtendienstes der Legio V. unerbittlich zurück auf seinen Platz.

Vicky war übel. Auch ohne die Fesseln, mit denen sie an die Anklagebank gebunden war, hätte sie sich kaum rühren können. Wie konnte das nur -? Da fiel ihr Blick auf die andere Seite des Saales, wo ein ihr so wohlbekanntes Gesicht das Geschehen wortlos verfolgte - ohne Rührung, sogar ohne auch nur zu zwinkern. Immer nur dieses Grinsen. Wie sie es hasste... sie musste unwillkürlich an das erste Mal denken, wo sie diesen furchtbaren Narren gesehen hatte...


~~~ oOo ~~~​


Vicky war bereits einige Jahre im Dienst der Legio V. Sie wusste, dass sie gut war. Manchmal zu sorglos - für ihren Vater viel zu oft zu sorglos - doch ohne Zweifel eine der Besten ihres Faches. Um so mehr erzürnte es sie, dass in den letzten Wochen absolut nichts zu funktionieren schien. Dabei war der Auftrag so einfach!

Ein Tiefling war in der Stadt aufgetaucht. Innerhalb kürzester Zeit hatte er die Unterwelt gehörig durcheinandergewirbelt und es verstanden, einen beträchtlichen Anteil des Rauschkrautmarktes unter seine Kontrolle zubringen. Er ging dabei äußerst zielstrebig vor. Die etablierten Gilden wurden bestochen oder mit Versprechungen auf seine Seite gezogen. Und wo der Zucker versagte, packte er die Peitsche aus.

Den Stiernackenclan, einst immerhin die drittgrößte Bande im Geschäft, hatte er innerhalb von nicht einmal einer Woche zerschlagen. Anderen Clans ging es nicht viel besser, doch waren sie seit jeher einander zu feind, um das nötige Bündnis einzugehen. Im Moment herrschte so etwas wie ein brüchiger Waffenstillstand, doch es war klar, dass dieser nicht von Dauer sein würde.

Der Tiefling selbst blieb bei allen seinen Aktionen stets im Hintergrund. Niemand schien ihn zu kennen oder auch nur mit ihm gesprochen zu haben. Hinter vorgehaltener Hand wurde er allseits nur ehrfürchtig "der Alte" genannt.

An welchem Punkt die Legio auf ihn aufmerksam geworden war, konnte Vicky nicht sagen. Ihr Vater hatte sich erstaunlich bedeckt gehalten, als sie ihn nach Einzelheiten bedrängte. Unzufrieden musste sie einsehen, dass ihr Charme den alten Haudegen diesmal nicht umstimmen würde. Es war ihm sichtlich nicht einfach gefallen, sie überhaupt einzubinden. "Vicky", hatte er gesagt, "ich will dich da nicht mit hineinziehen, doch du bist die Beste, die wir haben. Wenn es eine schaffen kann, etwas über diesen Tiefling herauszufinden, dann du."

Sie hatte sich geschmeichelt gefühlt und sich voller Elan auf die Aufgabe gestürzt. Aber je mehr sie nachforschte, desto frustrierender wurde ihre Suche. Zeugen verschwanden. Ein Tatort ging in Flammen auf. Und selbst ihr sonst so dienlicher Charme zeigte einfach keinen Erfolg.

Doch dann kam Bewegung in den Fall. Sie hatte zwei Tage lang eine heiße Spur zu einem Mann verfolgt, der einen Angriff der Bande des Alten überlebt hatte, indem er sich totstellte. Dabei konnte er wohl einen Blick auf das Gesicht des Tieflings erblicken – und einen Teil eines Gesprächs belauschen.

Das hatte ihr jedenfalls der Leiter eines Sanatoriums erzählt, wo sich Landron – wie sich der arme Teufel nannte – kurzzeitig hingeflüchtet hatte. Er blieb nicht lange, rannte noch in der selben Nacht wieder davon. Am Morgen stürzte das Gebäude ein und begrub alle Insassen und einen Teil des Pflegepersonals unter sich. Am Abend dann waren alle, die dem Einsturz entgangen waren, tot.

Vicky hatte sich selbst still beglückwünscht, dass sie dieses eine Mal schneller gewesen war – nur wenige Stunden später hätte ihr der Leiter der Einrichtung nichts mehr sagen können, denn er trieb bäuchlings im Abwasserkanal. Und reichlich tot. Vicky machte sich sofort fieberhaft auf die Suche nach Landron, wissend, dass sie in einem ungleichen Rennen steckte. Sie hatte den Zeitvorsprung, doch ihr unsichtbarer Feind scheinbar unerschöpfliche Ressourcen.

Dann war ein Brief unter ihrer Tür durchgeschoben worden. Sie entdeckte ihn erst, als sie total erschöpft und frustriert abends nach Hause kam. Mit einem Tritt ihrer Lederstiefel hatte sie ihn achtlos in eine Ecke befördert, ohne davon auch nur Notiz zu nehmen. Sie sehnte sich nach einem langen, heißen Bad und einer guten Zigarette. Erst als Mono aufgeregt klapperte und immer wieder auf die besagte Ecke deutete, entdeckte sie das Papier:

"Landron ist mein Name und gelauscht hat mein Ohr zur falschen Zeit an falscher Stell'!
Das Wissen um die schrecklich' Kunde mag ich nicht ins Grabe mit mir nehmen!
Magst von der verbot'nen Fruchte naschen, so komm' zum alten Tempel Aoskars!
Eile dich, des Totenvogels Schwingen hör ich wohl schon rauschen, seine Gnade mir in Bälde zu gewähren..."


Übermüdet und aufs Äußerste gespannt war Vicky daraufhin sofort wieder aufgebrochen. Aoskars Tempel... sie schauderte ein wenig. Niemand in Sigil ging gerne an diesen Ort. Dort hatte einst der Gott der Portale versuchte, der Dame die Stirn zu bieten. Nur die Ruinen des Tempels und ein verrückter Dabus erinnerten heute noch an den Moment, als ein einziger Gedanke von ihr dem Unsterblichen ein Ende bereitete und ihn unter den Trümmern seines einstürzenden Tempels begrub. Niemand lebte heute dort noch und es hieß, dass manchmal die Geister der begrabenen Priester umgingen. Nun, vor Geistern hatte Vicky keine Angst. Sie bleckte die Zähne und schritt noch ein wenig schneller...


~~~ oOo ~~~​


Endlich hatte sie die Tempelruine erreicht. Vorsichtig erklomm Vicky die ersten Trümmer. Sie verfluchte den Umstand, dass sie nicht in ihre dämonische Gestalt wechseln und einfach die Mauern überfliegen konnte. Doch sie brauchte Landon, und er musste ihr vertrauen. Wer wusste schon, wie der Anblick eines Dämons in diesem Moment auf seinen Geisteszustand wirken mochte.

Eine halbe Ewigkeit später stand sie gebeugt hinter einer Säule, vor sich den Innenhof des Tempels. Eine einzelne Fackel steckte dort in der Mitte und tauchte ihre Umgebung in schaurig flackerndes Licht. Tanzende Schatten strichen über den Boden und brachen sich an der menschengroßen Figur, die am äußeren Rande des Lichtkreises regungslos am Boden hockte. Die Sukkubus fingerte an ihrer Armbrust und machte sie schussbereit.

Vicky hatte die Szenerie dann eine Zeit lang beobachtet. Nichts hatte sich bewegt. Ihr war klar, dass sie sich aus der Deckung begeben musste, um zu der Figur zu gelangen. Sie rang eine Weile mit sich – in ihr schrillten sämtliche Alarmglocken Sturm. Doch eigentlich hatte sie keine andere Wahl – Vicky brauchte Ergebnisse, und zwar schnell.

Endlich gelangte sie zu einer Entscheidung. Sie holte tief Luft und huschte dann gebeugt über die freie Fläche, als... nichts geschah. Leise keuchend und argwöhnisch ihre Umgebung musternd stand sie jetzt vor der Figur, die zusammengesunken unter einem Kapuzenmantel auf dem Boden hockte.

Als sie dann leicht an der Kapuze zog, bot sich ihr ein Bild des Grauens: vor ihr hockte ein Toter. Sie war sich dessen ziemlich sicher, denn kein Mensch hätte eine derartige Wunde an der Kehle überleben können. Viel Blut war aus dem sauberen Schnitt ausgetreten, der tief in den Hals eingedrungen war. Es bildete schwarze Klumpen unterhalb der Eintrittswunde und hatte sich auf die Kleidung des Mannes ergossen.

Schon einige Stunden tot, Starre eingesetzt, kommentierte die Ermittlerin in ihr, während Vickys Augen an dem Mann entlangwanderten. Kiefernstellung ungewöhnlich, hat vielleicht etwas im Mund. Angeekelt zog die Sukkubus die Kiefern des Mannes auseinander. Sie fand tatsächlich einen zusammengeknüllten Zettel. Was für ein Klischee..., dachte sie, als sie das Blatt auseinanderfaltete.

"Gestatten, Landron war der Name und gelauscht hatt' ich zuviel!
Des Todesboten Schwingen trugen mich davon,
Im Geist gebrochen, und am Hals von spitzer Zunge wohl geküsst.
Hier endet deine Suche, Schnüfflerin,
Sonst grüßen dich die Toten bald in ihrem Reigen."


Vicky unterdrückte den Fluch, der ihr auf den Lippen lag und knüllte den Zettel in der Faust zusammen, als sie eine kleine Bewegung links von ihr wahrnahm. Ruckartig drehte sie sich um und feuerte ihre Armbrust auf die kleine Gestalt ab, die dort auf einem Schutthaufen hockte. Zum Glück hatte sie Lähmungsbolzen geladen! Doch der Gnom drückte sich blitzschnell ab und sprang mit einem Salto auf den Boden. Der Bolzen klapperte wirkungslos hinter ihm an einer Tempelmauer.

In einem seltsam grotesken Hüpftanz kam der Gnom auf sie zugesprungen. "Eins, und drei, und hundertzwei, der Armen Brust hau ich entzwei, auf dass die Armbrust kann kein Schaden machen! Hehehe... Da sei mal froh, dass du mich nicht getroffen hast, sonst verginge dir wohl gar zu schnell das süße Lachen!" - mit diesen Worten kam der Gnom einen Schritt vor Vicky zum Stehen.

Er war recht klein und hielt einen seltsamen Stab in seinen Händen. Als er seinen Kapuzenmantel zurückzog, schrak Vicky ein wenig zurück. Damals sah sie zum ersten Mal dieses grausame, seltsam verzerrte Grinsen, dass das halbe Gesicht des kleinen Wesens einnahm und dass sie bald darauf in ihre Träume verfolgen sollte. Auf dem Kopf trug er eine Narrenkappe mit kleinen Schellen dran. Moment mal... Schellen?, hatte Vicky sich damals als erstes gedacht.

"Wer seid Ihr? WAS seid ihr? Und warum haben die Schellen an Eurem Hut keinen Krach gemacht?"

"Oh, der guten Fragen drei, das muss man Euch wohl lassen. Jared werd' ich oft genannt, das ist der Name. Auch den Narren nennt man mich, das ist dann wohl die Profession. Doch wenn man zu diesem Jared gelegentlich auch Narr und Clown zu sagen pflegt, so spricht man eher selten einen Clown wohl auch mit Jared an, denn sind wir ehrlich, gibts mehr Narren auf der Welt als Jareds.

Doch gäb es noch 'nen Narrem diesen Namens, müsst ich ihm wohl die Trommelfelle stechen, denn kein and'rer Clown soll auf diesen Namen hören können! Einzigartig bin ich – und ich werd's wohl ewig bleiben.

Nun zur dritten Frage, die der Schellen. Die Narrenkappe zieren sie gar königlich, doch müsst Ihrs wohl bekennen, für leise Wege sind sie eher hinderlich. Deshalb leg ich sanft den Finger an sie an und mache 'Pssst!' - und kein Klimpern wird sodann die ruhigen Gassen stören!"


Vickys Kiefern mahlten leise bei dem Monolog des Gnoms. Sie hatte das getrocknete Blut bemerkt, das an der Spitze des Stabes in seinen Händen schwarze Klumpen bildete. Ihr Instinkt sagte ihr, dass es von Landron stammte. Vickys Nerven vibrierten leicht. Obwohl die Figur vor ihr klein und schmächtig war, ging doch eine unterschwellige Gefahr von ihr aus. Die Sukkubus steckte langsam die leergeschossene Armbrust weg und holte umständlich ihre Zigaretten heraus.

"So... Jared. Was weißt du über Landron hier?"

"Landron, Landron... ja, da klingelt 'was, und es sind diesmal nicht die Schellen! Irre war er, ohne Zweifel. Kleiner Fisch, verschluckte sich an einer Blase heißer Luft! Aufgebläht hat's ihn dadurch! Zuviel falsches Interesse hat's geweckt..."

"Du hast ihn umgebracht." Keine Frage, nur eine Feststellung.

"Natürlich! Musste doch die Luft ablassen!"

Mittlerweile hatte Vicky eine Zigarette auf ihr Mundstück gesteckt und umständlich angezündet. Als sie langsam daran zog, war nur das leise Knistern des Tabaks zu hören. Er zwinkerte nicht. Das beunruhigte sie irgendwie noch etwas mehr. Betont gelassen ließ sie den Rauch aus ihren Lungen entweichen.

"Du kennst den Alten. Wer ist er?"

"Auch wenn Jared alt ist, ist er nicht der Alte, soviel darf er dir verraten. Ein Untenler ist er, das auch. Mehr erfährst du wie alle and'ren zu gegeb'ner Zeit. Unzufrieden? Aber aber, eine Botschaft hab ich wohl für dich von ihm: er wünscht keinen Streit mit Legio, deshalb gab's Landron als den berühmten Schuss vor'n Bug serviert. Versteh's und halt dich dran, dann sind wir dir alle herzlich gut gewogen! Und nun, kleine Flatterliese, sagt des Narren Drehbuch 'Abgang'!"

Er streckte auf einmal blitzschnell den rechten Arm vor, und warf ein braunes Pulver in die Luft, das fast augenblicklich in einem ungeheuren Farb- und Geräuschregen explodierte. Vicky zuckte zusammen und musste sich abwenden. Nur Sekundenbruchteile später war das Spektakel schon wieder vorbei. Vicky öffnete ihre Augen und schaute sich um, doch von Jared war nichts zu sehen. Sie hörte nur ein leises, meckerndes Lachen und kleine Trippelschritte, die sich in Richtung Eingang entfernten. Er musste sich unsichtbar gemacht haben! Was für ein mieser, kleiner Drecksack! Als sie sich auf den Heimweg machte, schäumte sie vor Wut, dass ihr schon wieder eine Tür zugestoßen wurde.


~~~ oOo ~~~​


Ein langes, heißes Bad später hatte Vicky wieder zu ihrer kühlen Ruhe zurückgefunden, mit der sie ihre Fälle zu betrachten pflegte. Sie konnte ihrem Vater nicht ohne Ergebnisse gegenübertreten. Natürlich hätte er sie dafür nie gerügt, aber... sie war immerhin kein kleines Mädchen mehr, das bei jedem Rückschlag unter Vaters Rockzipfel kriecht!

Zurück am Schreibtisch begann sie, sich jeden einzelnen Fall noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Sie ging Monos Aufzeichnungen von den Tatorten immer und immer wieder durch. Tatsächlich konnte sie in gut der Hälfte aller Fälle irgendwo in der Zuschauermenge eine kleine Gestalt erkennen. Vielleicht den Gnom. Sicherlich den Gnom. Dann stutzte sie. Sie sah gerade durch Monos Augen noch einmal über den Vorplatz des eingestürzten Sanatoriums. Da stand unverkennbar der Gnom und blickte sie an! Sein Grinsen war selbst unter der das Gesicht halb verdeckenden Kapuze deutlich zu erkennen. Daran müsste sie sich doch erinnern? Diesen Blick konnte man nicht übersehen. In ihrer Erinnerung war der Platz neben ihr leer. Hm... sollte Mono etwa die Tarnung des Gnoms durchschauen können? Ein leichtes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Damit konnte man doch arbeiten!

Und dann dachte sie sich den Plan aus...


~~~ oOo ~~~​


Es war Nacht, zumindest, soweit man das in der Stadt der Tore überhaupt beurteilen konnte. Vicky hatte zwei Tage lang ihre Vorbereitungen getroffen. Sie hatte Gerüchte streuen lassen, dass es noch einen Überlebenden gab. Ein Wirt würde jedem, den es interessierte, erzählen, dass dieser sich völlig verstört an ihn um Hilfe gewandt habe. Aber der Wirt hätte darauf nur bedauernd mit den Schultern gezuckt und nichts davon wissen wollen. Würde sich wohl in so einer leerstehenden Bruchbude im Armenviertel versteckt halten. Nicht sein Bier... apropos Bier, noch eins? Danke schön.

Das Haus gehörte einem Mann, der Vicky noch mehr als einen Gefallen schuldete. Er nutzte es gelegentlich, um Treffen unter besonderen Umständen und ohne lästige Zuschauer abwickeln zu können. Die Sukkubus hatte alle Einrichtung bis auf einen Stuhl in der Mitte des Raumes entfernen lassen. Im Schutze der Dunkelheit war sie dann durch einen Fluchttunnel aus dem Gebäude der Legio abgehauen.

Nun saß sie in einen dunklen Mantel gehüllt auf dem Stuhl in der Hütte. Die Armbrust ruhte unter diesem schussbereit auf ihren Schenkeln. Vicky war sich sicher, dass niemand ihren Weg verfolgt hatte. Sie war nervös. Würde der Clown den Köder schlucken? Viel hing davon ab, wieviele der Gehilfen und Handlanger der Legio dem Feind vertraut waren. Andererseits konnte es sich der Alte wohl auch nicht leisten, solchen Gerüchten nicht nachzugehen... zuviel hing wohl von seiner Anonymität ab. Angespannt wartete Vicky, reglos auf ihrem Stuhl verharrend, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.


~~~ oOo ~~~​


Ein leises Klicken von der Tür her ließ die Sukkubus aus ihren Gedanken schrecken. Da, noch einmal ein Klicken! Ganz langsam und behutsam schwang die Tür auf. Unter dem Rand ihrer Kapuze hindurch erspähte Vicky eine kleine Gestalt, die hinter sich die Tür leise wieder schloss. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung – das musste Jared sein! Der Wicht sah sich sorgsam um, tänzelte dann zur Raummitte hin. Er blieb etwa zwei Schritt vor Vicky stehen. Sie sah, wie er den Kopf schieflegte und nachzudenken schien. Kurz sah sie einen Schatten über das Gesicht des Narren huschen, doch gleich darauf starrte er ihr wieder mit dem gleichen, monotonen Grinsen entgegen. Nach endlosen Sekunden fing er dann an zu sprechen:

"Sieh an, sieh an. Was hat die Katz denn da ins Haus geschleppt! Da hätt' ich Narr ja auch mit Pauken und Trompeten diesen gar so gastlichen Palast betreten können, 's Vöglein wär ja doch nicht ausgeflogen! Nein, sogar im Gegenteil, ist's doch kein Vöglein, sondern eine Spinne, geduldig wartend im gespannten Netz! Und Jared hier ist auch noch zügig dumm hineingetappt! Gut gespielt, klein Püppchen, doch muss der Narr hier leider dich enttäuschen!

Die Drohung hast du ignoriert, nun sollst an den Folgen deiner Torheit du ersticken! Und wenn du schön am röcheln bist, ist Jared hilfreich und verschafft dem armen Körper Luft. Nur – atmen tun die meisten trotzdem nimmer! Hat das Püppchen noch ein letztes Wörtlein mitzuteilen?"


"Du bist dir deiner Sache zu gewiss.", entgegnete Vicky und schlug mit einer schnellen Bewegung den Mantel zurück. Darunter kam die Armbrust zum Vorschein. An deren hinterem Ende saß Mono, einen kleinen Hebel in der Hand.

"Aber aber, kleines Püppchen! Bess're letzte Worte hat der Narr hier schon vernommen! 'Sein oder nicht sein', sprach der eine – und fand's dann doch recht schnell heraus, was seine Zukunft für ihn hat bereitgehalten. 'Handelt einer mit Honig, er leckt zuweilen die Finger!', sagte mal ein Zweiter. Und auch wenn ich dies Sprüchlein reichlich sinnig fand, musst er doch kurz darauf dann Farb' bekennen – und Ihr ratet richtig! Diese Farbe war natürlich rot! Und rot wird auch die Eure sein!

Und überhaupt, was wollt Ihr mit dem Böglein da? Ich ruf die Schatten, meine Freunde, wie's mir einst ein guter Narr gezeigt! Hab sozusagen seine Lehren in mich aufgesogen! Das nächste Mal, wenn Ihr mich seht, wird Euch des Narrenstabes Zunge auf die letzte Reise schicken! Adieu, klein Püppchen!"


Mit einem Mal war der Narr verschwunden. Vicky hörte seine kleinen Trippelschritte auf dem Boden. Sie schloss die Augen, um sich voll auf ihr Gehört zu konzentrieren.

"Ah, kleines Püppchen, ist das etwa deine ganze List? Wo's Aug' versagt, da muss das Trommelfelle ran? Na, Überraschung, sag' ich nur!" - plötzlich schien des Narren Stimme von überall im Raum gleichzeitig zu erschallen – "Des Narren erster Trick ist doch stets das Reden mit dem Bauche!" Jared stieß ein meckerndes Lachen aus.

Vicky stellten sich die Nackenhaare auf. Sie wusste, dass Jared irgendwo hinter ihr herumspringen musste, auch wenn sie sich nicht mehr auf ihre Ohren verlassen konnte. Hatte sie ihn richtig eingeschätzt? Alle Opfer waren von vorn erstochen worden... sie hoffte, dass dieser kleine Irre einfach nicht anders konnte. Sie sollte sich nicht getäuscht haben.

"So macht das doch alles keinen Spaß!", schimpfte Jared deutlich vernehmbar hinter Vicky. "Du musst schon tanzen mit den Schatten! Ins Leere stechen, Wund' um Wund' kassieren und am Ende um den Gnadenstoße röcheln! So ruhig, wie du hier sitzt, so ist's doch keine Schau fürs Publikum! Wird's bald?! AHH! Dann werd' ich die Sache nun halt schnell zu Ende bringen müssen!"

Vicky hörte Jared wieder um den Stuhl trippeln. Er stand jetzt irgendwo links vor ihr. Genauer konnte sie es nicht sagen, da er wieder mit Bauchreden angefangen hatte. "Triff deinen Schöpfer, Scheusal... "

Sie spürte plötzlich, dass er auf sie zugesprungen kam. Auf diesen Moment hatte die Sukkubus nur gewartet. Blitzschnell riss sie die Armbrust herum. Mono drückte in dem Moment ab, als Jared direkt vor vor der Armbrust war. Der Aufprall des Bolzens riss den kleinen Körper mitten im Sprung nach hinten und ließ ihn hart auf den Boden prallen. Er war sofort wieder sichtbar geworden. Ein leises Gurgeln drang aus der Kehle des Narren und seine Glieder zuckten noch ein, zwei Mal – dann setzte die Wirkung des Betäubungsmittels ein.

"Danke, kleiner Freund.", hauchte Vicky und gab dem Konstrukt einen Kuss. Sie konnte schwören, dass es leicht errötete. Dann sah sie nach Jared. Gut, lebte noch. Das Grinsen war ihm jedenfalls gründlich vergangen, der Bolzen steckte tief in seiner rechten Schulter. Sie nahm ich hoch und begab sich auf den Rückweg, ein triumphierendes Lächeln auf den Lippen...

Vicky lächelte nicht lange. Schon bevor sie die Zentrale der Legio V. betrat, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Sie stürmte die letzten Stufen hoch, rannte durch die Tür – und blieb wie angewurzelt stehen. Etwa zwanzig Wächterkonstrukte mit dem Zeichen der Dame auf der Brust hatten in der Lobby Aufstellung bezogen. Ihr Vater war gerade im Streit mit dem Anführer der Konstrukte, als die Sukkubus in den Raum polterte. Und dann... wurde sie fesgenommen. Jared wurde ihr aus den Armen gerissen. Vicky wollte Widerstand leisten – doch sie wusste, wie wenig es brachte, gegen die Konstrukte der Dame kämpfen zu wollen. Und fliehen? Gegen *ihren* Willen? Unmöglich in ihrer eigenen Stadt...


~~~ oOo ~~~​


" – ABER – "

Die Stimme des Richters riss Vicky aus ihren Gedanken.

"Aufgrund des persönlichen Wunsches des Geschädigten werdet Ihr, Vicky Vicktory, hiermit lediglich auf unbestimmte Zeit aus Sigil verbannt. Betretet Ihr die Stadt der Tore erneut, wird die Dame Euch keine weitere Gnade gewähren. Versteht Ihr, was das bedeutet?"

Wie gelähmt hatte Vicky die letzten Worte aufgenommen. Sie konnte nur matt nicken.

"Gut. Bereitet Euch nun auf den Ebenenwechsel vor, die Bannung wird sofort vollstreckt."

Vickys Blick traf den ihres Vaters. In seinen Augen spiegelten sich Angst und Erleichterung zugleich. Sie würde hier nicht sterben. Sie würden sich ab und an sehen können, das wusste sie. Vor ihr hüpfte Mono aufgeregt über die Tischplatte.

"Im Namen der Dame: Exil!"

Da bemerkte Vicky eine Bewegung am Rande ihrer Wahrnehmung und sie wirbelte mit dem Kopf herum. Jared hatte seinen Kopf schiefgelegt, das Grinsen schien noch etwas breiter zu werden. Eine Welle heißen Hasses durchzuckte die Sukkubus, als um sie herum die Luft zu verschwimmen begann. Sägende Kopfschmerzen erfüllten sie plötzlich, als der Ebenenwechsel begann und sie die Kontrolle über ihre Gestalt verlor. Das letzte, was sie in Sigil sah, war das Grinsen Jareds – und dann zwinkerte ihr der Narr zu...


~~~ EPILOG ~~~​


Leise klickten die Arme des kleinen Modronen, als er sie um eine zerbrochene Dachschindel legte. Er begann zu drücken. Langsam wühlte er sich aus dem Abfallhaufen heraus, in den ihn das Portal geschleudert hatte. Er war nach der Verhandlung schnell aus dem Gerichtssaal verschwunden. Sigil war die Stadt der tausend Portale – und irgendeines davon musste einfach die gleiche Signatur aufweisen, wie das, durch das Vicky verschwunden war. Und nach längerer Suche hatte er Glück...

Das kleine Konstrukt stand in einer Seitenstraße einer großen, dreckigen Stadt. Sein Sucher begann, die umliegenden Mauern abzutasten. Er befand sich direkt neben einem Stadttor. "Baldurs Tor", war in großen, zum Teil abgeblätterten Lettern darüber zu lesen. Der Modron piepste leise und richtete sein Objektiv neu aus. Dann machte er sich auf die Suche...
 

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Der Narr und die Fledermaus

„Danke, dass du kommen konntest, Vicky.“
Hauptmann Lindendorf nahm einen letzten Zug von der Zigarre in seinem Mund und schnippte den Stumpen dann in eine der zahllosen Pfützen, die sich am letzten Tag des Sommers zwischen den Pflastersteinen der Stadt gebildet hatten.

Vicky nickte unter ihrer Kapuze und bedachte den Hauptmann mit einem längeren Blick. Im flackernden Licht der Gaslaterne wirkte Lindendorf alt und verbraucht, als hätten all die Jahre der Verbrechensbekämpfung endlich ihren Tribut gefordert.

Nicht, dass sie selbst so viel besser aussah. Vicky warf einen Seitenblick auf die Pfütze, in der sich ihr Umriss schwach abzeichnete. Sie hoffte, dass Lindendorf in der Dunkelheit nicht ausmachen konnte, wie ausgemergelt ihre Züge im Schatten der Kapuze waren. Auch an ihr war die jüngere Vergangenheit nicht spurlos vorübergegangen.

„Ich bin froh zu helfen, Hauptmann. Was liegt an?“

Lindendorf setzte zu einer Antwort an, schüttelte dann jedoch nur hilflos den Kopf. Er deutete auf die Ladenfront, vor der zwei uniformierte Söldner der Flammenden Faust Stellung bezogen hatten. „Lass uns hineingehen. Das siehst du dir besser selber an.“

Der kleine Laden war eine Kombination aus Verkaufstheke mit angeschlossenem alchemistischem Labor und Wohnraum für die Familie der Inhaberin. Im Verkaufsraum befanden sich mehrere Männer und Frauen in den Roben der Stadt, des Klerus und der Flammenden Faust, die sich in düsterem Tonfall tuschelnd unterhielten. In einer Ecke kniete ein junger Söldner und schluchzte unablässig, während eine Priesterin beruhigend auf ihn einredete.
Lindendorf deutete mit einer finsteren Miene auf den Durchgang zur Stube. Vicky folgte ihm mit einem sehr, sehr unguten Gefühl. Als sie die Szene im Wohnraum sah, meinte sie zu fühlen, wie sich ihr Inneres zusammenzog und durch einen Eisklumpen ersetzt wurde.

Die Frau, ihr Mann und die beiden Kinder, ein Junge und ein Mädchen, waren auf eine Art und Weise um den Esstisch drapiert, dass man für einen sehr, sehr kurzen Moment meinen könnte, alles wäre in Ordnung.

***

Vicky saß in ihrem Kontor und sehnte sich nach einer Zigarette. Sie hatte in den letzten Wochen keinen Gedanken daran verschwendet, die Rauchutensilien, die Aramands Männer ihr entwendet hatten, zu ersetzen. Aber im Moment wäre ihr alles Recht, um sich von ihrem aktuellen Auftrag abzulenken. Vicky blätterte durch die diversen mit Dienstsiegeln bewehrten Pergamente, die ihren Schreibtisch bedeckten.
Was sie sah, wenn sie die Ereignisse der Tatnacht rekonstruierte, war unverständlicher, böser Wahnsinn.

Der Mörder musste irgendwann in der vorigen Nacht in das Haus eingedrungen sein. Als die besorgten Nachbarn die Stadtwache informiert hatten, hatte diese sowohl die Vordertür als auch die Tür zum Hof von innen verriegelt vorgefunden. Das schmale Fenster von der Küche zum Hof war aufgehebelt worden, jedoch musste es für einen erwachsenen Menschen als schier unmöglich erachtet werden, sich durch diese kleine Öffnung zu zwängen. Hatte der Täter also einen Komplizen gehabt, einen Halbling oder Goblin, der ihm die Tür erst geöffnet und dann wieder verschlossen hatte? Oder musste man den Mörder einer dieser Gruppen zurechnen?

Jedenfalls war der Täter nach erfolgreichem Eindringen vermutlich direkt die schmale Treppe zum Schlafzimmer der Familie hinaufgestiegen. Dort hatte er, den Blutspuren nach zu folgen, alle drei der vier Familienmitglieder innerhalb kürzester Zeit durch eine Vielzahl an Schnitten getötet. Eine größere Blutlache war vor der Türe zum Hof gefunden worden, weswegen davon ausgegangen werden musste, dass eines der Familienmitglieder einen letztendlich gescheiterten Fluchtversuch unternommen hatte.

Nach vollbrachter Tat hatte der Täter jedoch erst mit seiner grausigen, unverständlichen Arbeit begonnen. Er hatte jedem Mitglied der Familie zwei Schnitte in die Wangen verpasst, was durch Ummalen mit weißer und roter Farbe den Effekt eines grässlichen Lächelns hervorrief. Dann hatte er ihnen die Nachgewänder vom Leibe geschnitten und die Familie in ihre besten Sonntagsgewänder gezwängt. Irgendwie hatte er die drei Leichen aus dem Schlafzimmer dann in den Wohnraum geschafft und sie in lebensechten Posen zusammen mit der vierten Leiche um den Esstisch angeordnet. Er hatte den Tisch mit Töpfen und Tellern gedeckt, die er mit alchemistischen Zutaten aus dem Labor aufgefüllt hatte.

Zuletzt hatte er den Kindern noch jeweils einen schwebenden Ballon an einer Schnur um das Handgelenk gebunden, wie sie die Alchemisten der Stadt seit einiger Zeit äußerst erfolgreich verkauften.

Die Opfer waren Ludile und Henrik Kupferkessel, sowie ihre Kinder Marek und Jolinda. Ein niedergelassenes und ordnungsgemäß bei der Gilde registriertes Alchemistenehepaar. Nachbarn, Kollegen und Freunden zufolge war die Ehe glücklich, das Geschäft lief gut, keine Feinde.
Die bescheidenen Ersparnisse der Kupferkessels waren unangetastet, ebenso der Schmuck der Ehefrau.
Dafür gab es Hinweise, dass im Labor der Kupferkessels noch in der Tatnacht gearbeitet wurde.

Wir suchen einen wahnsinnigen Goblinalchemisten! dachte Vicky und lachte verzweifelt auf. Sie war ratlos.

Mit einem Rascheln und Klicken machte Mono auf sich aufmerksam, als er um die Schädellampe herum über den Schreibtisch auf sie zukrabbelte.
Vicky seufzte und tätschelte die Oberfläche ihres treuen Begleiters.

„Wir hätten vielleicht doch in Sigil bleiben sollen, was meinst du?“

Mono ignorierte sowohl das Tätscheln, als auch den Kommentar, und krabbelte weiter zielgerichtet auf ein bestimmtes Dokument zu. Als er es erreicht hatte, tippte er mit einem seiner Beine mehrmals auf das Pergament und klickte bestimmt.

Vicky betrachtete das Blatt; es war eine Auflistung der verschiedenen alchemistischen Zutaten, die sich auf den Tellern der Opfer befunden hatten.

„Du meinst, das ist wichtig?“

Ein weiteres bestimmtes Klicken. Vicky zuckte mit den Achseln. Es würde nicht Schaden, einen Brief an die Alchemistengilde aufzusetzen, mit der Bitte, sich die verwendeten Stoffe einmal genauer anzusehen.

***

Lindendorfs Männer hatten begonnen, die Goblinslums der Stadt zu durchforsten, während von potenten Schutzzaubern gedeckte Helmiten Geheimlabors stürmten und die Schwarzmagier der Stadt zur Befragung in ihre Kerker schleiften.

Vicky paffte an einer Zigarre, die sie sich von dem Hauptmann geliehen hatte. Ekelhaft! Der Spender selber war gerade damit beschäftigt, Befehle an eine schwer gerüstete Abteilung seiner Männer zu geben.

Die Soldaten, anonym hinter dem Metall ihrer Topfhelme, marschierten los. Nicht etwa, um die armseligen Behausungen der Goblinoiden in den Straßenschluchten hinter ihnen einzureißen, sondern um den Mob an Bürgern aufzulösen, der sich vor den Slums gebildet hatte.

Die Nachricht, dass vermutlich Goblins eine anständige, unbescholtene Familie auf bestialische Weise ermordet hatten, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet und nun drohten die schlimmsten Rasseunruhen seit langem.

Lindendorf trabte in seinem schweren Kettenhemd zu Vicky und wischte sich mit dem Saum seines Mantels den Schweiß von der Stirn.

„Das ist Wahnsinn.“ sagte er außer Atem. „Wenn wir unseren Täter nicht bald finden, haben wir demnächst ein Massaker in der Stadt.“ Er nahm einen Schluck aus seiner Feldflasche. „Nur Wasser, leider.“ Lindendorf grinste, wurde aber gleich wieder ernst. „Es würde mich nicht wundern, wenn der Stadtrat bald irgendeinen dieser Scharlatane aufknüpfen lässt, die die Kleriker zusammengetrieben haben, nur um das Schlimmste zu verhindern.“

Vicky kapitulierte und reichte die Zigarre zurück an Lindendorf.

„Nicht, wenn wir es verhindern können. Du meintest, du hast etwas für mich?“

„Ah ja.“ Der Söldner klemmte die Zigarre zwischen seine Zähne und durchkramte die diversen Taschen an seinem Gürtel. Schließlich förderte er einen mitgenommenen Notizzettel zu Tage.

„Wir waren ja beide der Ansicht, dass jemand, der etwas derartiges zustande bringt, nicht das erste und nicht das letzte mal zugeschlagen hat. Ich habe unseren Magiern ein paar ihrer kostbaren Fernsprech-Zauber aus den Rippen leiern können, und Nachforschungen angestellt. Ich hatte nicht viel Zeit, aber es hat schon gereicht, mehrere andere Fälle aufzutun, in denen Opfer mit dieser charakteristischen …Schnittverletzung im Gesicht aufgetaucht sind, über die gesamte Schwertküste verteilt.“ Lindendorf reichte Vicky den Zettel.

„Hauptsächlich Landstreicher, Dirnen… also Leute, die niemand vermisst. Aber der hier—“ er tippte auf einen der Namen „—kann uns vielleicht weiterhelfen. Konstantin Bonifazius, genannt Beppo. Hat als Narr und Schausteller gearbeitet, zuletzt für den Zirkus Quayle. Ist dann vor einem halben Jahr in Nashkell ermordet worden.“

Vicky runzelte die Stirn. „Und?“

Lindendorf lächelte. „Der Zirkus ist gerade in Baldurs Tor. Das Herbstfest, weißt du?“

Vickys Gesichtsausdruck machte wohl deutlich, dass sie nicht wusste.

Der Hauptmann seufzte. „Jedenfalls dachte ich, dass du vielleicht dort etwas über unseren Täter herausfinden könntest. Und, ehrlich gesagt,“ er musterte Vicky mit einem für ihren Geschmack viel zu besorgten Gesichtsaudruck, zwang sich dann aber zu einem kameradschaftlichen Zwinkern, „vielleicht tut dir ein bisschen Zerstreuung auf dem Jahrmarkt ganz gut. Du wirkst etwas… mitgenommen.“

Vicky fuhr sich mit der Hand durch ihr Haar, das sich viel stumpfer anfühlte, als es sein dürfe. Wenn der Hauptmann die selben Augenringe sah, die ihr an diesem Morgen aus dem Spiegel entgegengeblickt hatten, dann war ‚mitgenommen’ eine sehr rücksichtsvolle Umschreibung.

Es lag nicht an diesem Fall. Sicher, die schreckliche Szene am Tatort und der Stress der folgenden Tage hatten Vicky ebenso mitgenommen wie Lindendorf und die anderen Ermittler.
Aber sie hatte schon viele schlimme Dinge gesehen. Es war ihr Beruf, und sie würde darüber hinwegkommen, irgendwann. Letztendlich betraf sie das Schicksal der Alchemistenfamilie ebenso wenig wie das von Beppo, dem Narr.
Das eigentliche Problem lag tiefer. Seit den Ereignissen im Orkus hatte Vicky kaum geschlafen.
Ihre dämonische Natur hatte sie so weit von sich gewiesen, wie sie es nicht für möglich gehalten hätte.
Wenn ihre Kräfte früher ein Feuer waren, das heiß und schwer kontrollierbar in ihr brannte, so hatte sie nun nur noch ein zaghaft flackerndes Flämmchen in sich, oder welche alberne Analogie man auch immer verwenden wollte.

Jedenfalls war es im Moment aus mit ihren übersinnlichen Fähigkeiten und Kräften, und dazu gehörte auch ihre unwirkliche Schönheit.
Vicky war bereit diesen Preis zu zahlen, um den Dämon in sich zu kontrollieren. Aber sie fühlte sich elend menschlich.

Sie steckte den Zettel in eine Tasche ihres Umhangs. „Nur etwas müde.“ Sie klopfte dem Hauptmann auf die Schulter. „Ich mache mich gleich auf den Weg.“

Während sie das Viertel verließ, hörte sie Tumult und Schreie, als die Soldaten begannen mit ihren Stöcken auf den Mob einzuprügeln. Wenig später lag Brandgeruch in der Luft.

***

Während sich die Meute vor dem Goblinviertel gegenseitig die Schädel einschlug, herrschte auf dem Jahrmarkt eine ausgezeichnete Stimmung.
Der Zirkus nahm mit seinem für Vicky überraschend großen Zelt einen zentralen Platz ein; darum waren die Wägen von Artisten, Schaustellern und anderem fahrenden Volk gruppiert. Kinderscharen tummelten sich um Käfige mit allerhand exotischen Tieren (Riesenschlangen, Tiger, Aaskriecher) und Buden an denen man jede erdenkliche Süßspeise und natürlich die allgegenwärtigen schwebenden Ballons erstehen konnte.

Ein nun reicher Händler aus Amn hatte die Mode gestartet, wie Vicky wusste. Der Mann hatte Kautschuk in rauen Mengen aus den Kolonien des Reiches importiert und sich dann mit einem findigen Alchemisten zusammengetan, der die ‚leichte Luft’ erfunden hatte, mit denen die Kautschukblasen gefüllt werden konnten.
Während Fachwelt und Militärs noch über mögliche Verwendungszwecke für die leichte Luft grübelten, freuten die Kinder in Baldurs Tor sich jedenfalls schon gehörig.

Für die Erwachsenen gab es das übliche Sammelsurium an Hau-den-Oger Ständen, Stabschleuderbuden, sowie natürlich eine große Auswahl an Bier- und Weinständen. Deren zwergische beziehungsweise menschliche Besitzer beäugten sich gegenseitig misstrauisch, während schürzenbewehrte Mägde die Menge versorgten.

Das einzige, das fehlte, waren die üblichen Fresstände der Halblinge. Diese hatten anscheinend im Lichte der aktuellen Ereignisse beschlossen, sich erst einmal aus dem öffentlichen Leben Baldurs Tors fernzuhalten.

Vicky bahnte sich ihren Weg durch den ganzen Trubel hindurch zum Eingang des großen Zeltes.

In einer kleinen Bude neben dem Eingang saß eine kleine, aber aufgequollene Elfe mit strähnigem blonden Haar und blutunterlaufenen Augen. Sie wies Vicky den Weg zum Direktor, bevor sie einen weiteren Schluck aus einer mit einer braunen Tüte nur schlecht verborgenen Schnapsflasche nahm.
Vicky wunderte sich kurz, wie eine Elfe so hatte abstürzen können, und betrat das Zelt.

***

Die Zuschauerränge waren leer; die letzte Vorstellung des Tages würde erst in einer Weile beginnen.
Auf und über der Manege tummelten sich jedoch einige Darsteller und bereiteten sich auf ihre Auftritte vor.

Am Trapez unter dem Zeltdach schwang eine kleine Gruppe von Artisten in grün-roten Kostümen zwischen den zwei Hauptmasten hin und her, während darunter ein Illusionist in einer glitzernden Robe Flammenzungen in verschiedenen Farben emporschießen ließ.

Dahinter vollführte ein kleiner Narr in einem blau-roten Kostüm mit Schellenkappe und Narrenkolben allerhand Kunststücke und Turnübungen. Zuletzt vollführte er einen Überschlag, der damit endete, dass er mit einer langen Nadel einen Ballon zerstach, der von einer jungen Frau in einem enganliegenden und kurzen Paillettenkleid gehalten wurde.
Glitzerndes Konfetti regnete über die Frau, die allerdings wenig begeistert dreinblickte.

Ein dunkelhäutiger Dompteur mit tätowiertem Gesicht versuchte derweil, einen gelangweilt wirkenden Panther dazu zu bewegen, doch bitte durch
einen Reifen zu springen.

In der Mitte all dessen stand Direktor Quayle in seiner lila Livree mit passendem Zylinder und rief den Mitgliedern seiner Truppe ab und an eine Anweisung zu. Ein Gnom, wie Vicky feststellte.

***

„Mh ja, der arme Beppo.“ murmelte Quayle und kratzte sich an seinem Bart, nachdem Vicky ihn mit ihrem Anliegen konfrontiert hatte. „Das war eine Tragödie. Haben ihn zusammen mit seiner Freundin, einer Hübschlerin, in ihrer Hütte in Nashkell gefunden.“ Der alte Gnom spuckte in den Sand und blickte dann mit seinen wässrigen Augen ins Leere. „Körper total zerstückelt. Und die Gesichter…“ er schüttelte den Kopf. „Wir haben das früher Calimsham-Grinsen genannt, als ich jung war. Aber wer tut nur sowas?“

Vicky tippte mit ihrer Schreibfeder auf den Einband ihres Journals.

„Das versuchen wir herauszufinden. Gab es denn damals irgendwelche Hinweise auf den Täter? Irgendetwas?“

Der Direktor schüttelte erneut den Kopf. „Nein junge Dame, leider nicht. Nichts, an das ich mich erinnern würde.“ Er seufzte. „Dieser Zirkus scheint mir manchmal vom Unglück verfolgt. Sie würden zum Beispiel nicht glauben, was uns damals in Athkatla passiert ist… jedenfalls dachte ich nach der Tragödie in Nashkell, ich könnte den Laden zumachen. Aber dann haben wir zum Glück gleich Ersatz für Beppo gefunden. Äußerst talentierten Ersatz dazu, muss ich sagen, wenn auch etwas… eigen.“

Er nickte zu dem Narren in dem blau-roten Kostüm, der mit einem breiten Grinsen in seinem geschminkten Gesicht zu Vicky und Quayle hinüberwinkte.

„Hier!“ Quayle drückte Vicky ein buntes Kärtchen in die Hand. „Eine Freikarte. Heute Abend ist zwar Familienvorstellung, aber sie können trotzdem gerne hereinschauen. In jedem dritten Ballon ist außerdem eine Überraschung versteckt; sie haben ja gesehen, wie das dann aussieht, wenn unser Jared loslegt.“ Er zwinkerte Vicky zu. „Die Kinder werden jedes Mal ganz verrückt vor Freude, wenn es mit dem Konfetti losgeht. Hach, die Freuden eines alten Mannes…“

Vicky ließ die Karte zwischen den Seiten ihres Notizbuches verschwinden.

„Hm. Bei der Sache in Nashkell— gab es da Probleme mit Goblins in der Gegend?“

Quayle wirkte überrascht. „Goblins? Nein, nicht das ich wüsste. In Nashkell gab es mal Kobolde, aber das ist lange her. Witzig, dass sie fragen, denn die Kobolde wurden von einer Gruppe Abenteurer vertrieben, die damals…“

Vicky ließ das Geplapper noch eine Weile auf sich einplätschern, dann bedankte sie sich bei dem Direktor, der sich zunehmend in sentimentalen Erinnerungen zu verlieren schien.
Sie beschloss aus einem Instinkt heraus, sich noch etwas mit dem Ersatzmann des unglücksseligen Beppo zu unterhalten.

Schon während sie sich dem Narren näherte, bereute sie ihren Entschluss.

Die frettchenhaften Züge der dürren Gestalt verzogen sich zu einem noch breiteren Grinsen. Der Kontrast zwischen der dicken, weißen Schminke und dem Gelb der großen Zähne des Narren im Zusammenspiel mit dem unsteten, mal hierhin mal dorthin huschenden Blick ergab einen irgendwie beunruhigenden Gesamteindruck.

Die junge Frau in dem Paillettenkleid schien jedenfalls glücklich über die Gelegenheit, sich aus der Nähe des Narren zu entfernen.

Dem verschlissenen Kostüm entströmte ein irgendwie modriger Geruch. Die Glöckchen an seiner Kappe klingelten leise, als Jared sich spöttisch verbeugte.

„Sieh an, sieh an, wen die Winde des Schicksals an unsere Küste getrieben haben! Ein wahrhaft wundersames Geschöpf! Eine Schönheit! Ein Engel mit göttlicher Gestalt! Auch wenn“ —der Narr vollführte einen plötzlichen Rückwärtssalto— „auch wenn sie ihre beste Zeit wohl schon hinter sich hat! Wie kann der arme, unwürdige Jared ihr dienen, Liebling?“

Vicky blickte angewidert auf die kleine Gestalt, die sie mit einem durchdringenden Blick und dem immergleichen, starren Grinsen bedachte. Sie trat unwillkürlich zwei Schritte zurück.

„Konstantin Bonifazius, Beppo. Dein direkter Vorgänger, ermordet, kurz bevor Quayle dich angestellt hat. Weißt du etwas darüber, wer…“

Bevor sie die Frage zu Ende stellen konnte, verzogen die Züge des Narren sich plötzlich zu einem Ausdruck tiefster, übertriebener Trauer. Er packte zwei Zipfel seiner Narrenkappe und zog sie zu sich hinunter, während er auf die Knie fiel und die Augen zum Zeltdach hin verdrehte.

„Beppo! Oh, Beppo! Oh, welch schändliches Ungemach hat dich doch heimgesucht, oh allerbester Geselle. Und die arme Susi gleich dazu!“ Er schnäuzte sich in seine Narrenkappe. „Eben erst waren wir bei Trunk und Würfelspiel zu Brüdern geworden, da riss das Schicksal ihn schon fort! Allein, wer beging die Tat, ich kanns nicht wahrhaft sagen.“

Jared vollführte eine Rückwärtsrolle; als er wieder hochkam, war die gespielte Trauer wieder von seinem Gesicht verschwunden und durch das unheimliche Grinsen ersetzt.

„Doch ja, jede Münze hat zwei Seiten, Liebling. Und der Tod des einen war Lohn und Brot des andern!“ Jared holte seinen Narrenkolben hervor und wiege ihn selig in den Armen. „Wir sind unserem Beppo so dankbar, fürwahr!“

Vicky merkte, dass sie unbewusst ihr Notizbuch fest umklammert hatte und es wie einen Schild zwischen sich und das Männlein hielt. Der Narr beunruhigte sie aufs äußerte. Sei nicht albern! ermahnte sie sich selbst.

„Ja, eine günstige Fügung …fürwahr.“ Sie blätterte durch ihr Notizbuch.
„Kannst du mir sagen, Jared, wo du in der Nacht des letzten Sommertages warst?“

„Sie will wissen wo ich war, Liebling? Warum, sehnte sie sich nach meinem zarten Körper zwischen ihren Schenkeln? Misste sie die Geschicklichkeit des Narren? Oder ist es die knabenhafte Gestalt?“

Der Narr kam grinsend näher.
Vicky wich entnervt einige weitere Schritte zurück.

Jared fuhr fort: „Doch Liebling, leider muss ich sagen, ich fühlte mich wohler bei den Grillen zu nächtigen! Draußen pfleg ich mein Nachtlager aufzuschlagen, jeder hier kanns wahr heißen! Und, es bricht das Herz es so zu sagen, Liebe weckt sie in mir nicht! Aber gerne kann ich einmal den Freundschaftsdienst erweisen.“ Er vollführte kichernd eine erneute spöttische Verbeugung.

Vicky hatte genug. „Das reicht!“ Mit einem Knall schlug sie ihr Journal zu. „Wir sprechen uns noch einmal, Jared!“
Sie machte auf dem Absatz kehrt und stapfte davon.

Der Narr kicherte immer noch, während er ihr hinterher rief.
„Wahrlich gerne, Liebling, doch heut Abend wird sie sich allein genüge tun! Ihr armer Diener muss gleich ordentlich den Blasebalg treten, es gilt die lieben Kleinen froh zu machen!“

Während Vicky wütend aus dem Zelt stapfte, beschloss sie, Lindendorf auf den Narren anzusetzen.
Irgendwelchen Dreck hatte der kleine Spinner sicherlich am Stecken, und dass er sich sowohl beim Tode seines Vorgängers, als auch der Alchemistenfamilie in der näheren Umgebung aufgehalten hatte, rechtfertigte eine härtere Befragung.
Aber dabei konnte sich ruhig jemand anders die Hände schmutzig machen.

***

Als Vicky den Turm des Eisernen Thrones erreichte, kündigte sich die Dämmerung schon durch einen zartrosa Stich am Horizont an. Die Stadt war ruhig; wie ausgestorben sogar. Lindendorfs Männer und der Jahrmarkt hatten wohl das Schlimmste verhindert. Zumindest für heute.

In der Empfangshalle des Turms wartete ein Bote auf sie; die Antwort der Alchemistengilde war endlich eingetroffen.
In Ihrem Kontor angekommen warf Vicky das Kuvert auf ihren Schreibtisch und machte sich erstmal einen Tee, während Mono sich begeistert als Brieföffner betätigte.

Mit der dampfenden Tasse neben sich überflog sie dann den Inhalt des Kuverts. Die ersten beiden Bögen enthielten neben ein paar förmlichen Grußworten nichts als Warnungen und Strafandrohungen, sollte man den Inhalt des Dokuments unbefugt weiterleiten oder die enthaltenen Informationen missbrauchen.
Darauf folgte eine detaillierte Auflistung der möglichen Verwendungszwecke für die am Tatort gefundenen Stoffe.
Vicky wollte gerade die Tasse zum Mund führen aber stockte unwillkürlich, als ihr klar wurde, was sie da gerade las.

Nein, oh nein!

Dem Brief zufolge waren die gefundenen Stoffe alles, was man brauchte, um ein giftiges, extrem feines Pulver herzustellen. Bei Hautkontakt mit größeren Mengen oder mündlicher Einnahme drohten körperliche Beschwerden die von schweren Krämpfen bis zum Tod reichen konnten; geistige Auswirkungen konnten von Verwirrung bis zum Wahnsinn reichen.

Vor Vickys innerem Auge setzte sich ein groteskes, erschütterndes Bild zusammen.

Direkt vor meinen Augen! Dieser Wahnsinnige. Nein, nein, nein! Die Kinder!

Sie warf die Tasse beiseite und lief verzweifelt im Raum auf und ab. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass die Dämmerung dabei war, den Himmel in ein buntes Farbenmeer zu tauchen. Sie würde es nie rechtzeitig zum Zirkus schaffen.

Doch. Einen Weg gab es.

Sie spürte ein altbekanntes Feuer in sich auflodern.

***

Im Zirkus Quayle näherte sich der Auftritt des Narren Jared seinem Höhepunkt. Die Kinder waren von den ausverkauften Rängen nach unten an die Bande der Manege geströmt und reckten dem Narren erwartungsvoll die blauen und roten Ballons entgegen.

Dieser hatte schon seine lange Nadel gezückt und wedelte damit neckend vor der Kinderschar herum.

Als das Flehen der Kleinen endlich einen seinen Ansprüchen genügenden Pegel erreicht hatte, schoss er plötzlich vor, machte einen Salto und zerstach noch im Landen einen der Ballons.

Der Ballon enthielt nichts als Luft. Während die Kinder, mit Ausnahme des traurigen Besitzers des Ballons, vergnügt kreischten, zog Jared in einer ironischen Geste der Entschuldigung die Achseln hoch.

Dann wirbelte er blitzschnell herum und mit einem lauten Knall zerplatzte der zweite Ballon. Wieder nur Luft.

Die Kinder drängten sich nun begeistert vor der Bande zusammen, während Jared in dramatischer Langsamkeit zum dritten Anlauf ansetzte.
Die kleine Zirkuskapelle ließ einen Trommelwirbel beginnen, der auf einen großen Tusch hinzielte.

Jared lief an, sprang, seine Nadel blitze und— Vickys Bolzen traf den Narren mitten im Flug. Der kleine Körper knallte zum Tusch der Kapelle an die Bande. Die Menge hielt entsetzt den Atem an; erschrocken wichen die Kinder zurück. Mehrere der Ballons stiegen nach oben. Jemand deutete hinauf und schrie entsetzt.

Vicky schwebte unter dem Zeltdach. Ihre Schwingen warfen riesige Schatten auf den Leinenstoff. Ihr Gesicht hatte sie mit einer dunklen Kapuze und einem Schal verhüllt, so dass nur ihre rot leuchtenden Augen hervorstachen.

Sie bemühte sich um ihre finsterste, dämonischste Stimme und schleuderte der Menge ein hallendes „Raus hier!“ entgegen.

Der Effekt war bemerkenswert. Die Menschen packten ihre Kinder und strömten schreiend nach allen Seiten aus dem Zelt, während mehr und mehr der Ballons zur Decke stiegen.

Vicky landete neben dem leblosen Körper des Narren. Sie atmete schwer in ihren Schal.

„Hab ich dich, du kleiner Mist—“.

Bevor sie den Satz beenden konnte, wirbelte der kleine Körper auf einmal herum.
Vicky sah den Narrenkolben auf sich zufliegen, etwas blitzte metallisch auf, ein reißendes Geräusch, dann ging sie zu Boden.

„Liebling!“ schrie der Narr begeistert. „Ich dachte schon, sie kommt nicht mehr.“

Vicky sah, dass Jareds Kostüm blutgetränkt war. Sie hatte ihn erwischt; er sie allerdings auch. Sie fühlte sich plötzlich sehr benommen.
Sie versuchte mit zusammengebissenen Zähnen, wieder auf die Beine zu kommen, aber ihre Gliedmaßen versagten ihr den Dienst. Ein Gift? Ihr Körper würde schnell damit fertig werden— sofern sie die nächsten Sekunden überlebte.

Der Narr beachtete sie jedoch nicht weiter, sondern schwang sich behände über die Bande. Vicky gelang es, auf die Knie zu kommen. Da trat Jared wieder in ihr Blickfeld, ein schreiendes kleines Mädchen in den Armen.

„Nun mag sie mich entschuldigen! Es gilt noch einen großen Auftritt zu vollenden, ehe das gar undankbare Publikum die Ränge gänzlich räumt!“

Mit diesen Worten sprang der Narr auf einen der beiden großen Masten zu und begann, das Mädchen unter dem Arm, diesen mit einer Kraft und Geschicklichkeit zu erklimmen, die Vicky ihm niemals zugetraut hätte. Vor allem nicht verwundet und derart schwer beladen.

Vicky blickte hinauf zu den Ballons, die sich unter dem Zeltdach gesammelt hatten und denen der Narr sich nun rasch näherte.

Oh nein!

Sie kam auf die Beine.

***

Jared erreichte das Plateau an der Spitze des Mastes, von dem aus die Trapezkünstler ihre Vorstellungen begannen. Mit einem Schnaufen zog er sich und das schluchzende kleine Mädchen auf die hölzerne Plattform.

„Ist gut Kleines, ist gut. Ist ja gleich vorüber, das Elend, wirst schon sehen…“ murmelte er, während er sich umdrehte und—

Vicky stand vor ihm, die kleine Handarmbrust auf ihn gerichtet.

„Lass die Kleine gehen, Jared.“

„Ah, Liebling, ich denke nicht. Die Situation braucht etwas mehr Dramatik, meint sie nicht auch?“

Der Narr zwinkerte Vicky zu, und ging einige Schritte zurück. Nun balancierte er auf dem Hochseil, das Kind in seinen Armen.

„Hoppla! Ja, das scheint nun dramatisch genug!“ Er kicherte.

Vicky ließ die Armbrust ein Stück sinken. „Wieso, Jared? Wieso die Kinder?“

Der Narr wirkte ernstlich erstaunt. „Wieso? Wieso nicht?! Hoppla!“ Er schien kurz das Gleichgewicht zu verlieren, fing sich aber und grinste wieder.

„Das Leben ist ein Witz, Liebling, und manchen wird die Pointe etwas früher zugetan als anderen.“

Vicky bewegte sich vorsichtig zum Rand der Plattform vor. „Du bist wahnsinnig!“

Der Narr nickte begeistert.

„Und wieso die albernen Spielchen? Wieso die Hinweise mit den Ballons? Wolltest du aufgehalten werden?“

Der Narr bewegte sich weiter auf dem Hochseil zurück.

„Sagte ich, das Leben ist ein Witz? Nein, ich sage das Leben ist eine Geschichte, die von einem Idioten erzählt wird! Oder hat das jemand anders gesagt?“ Er gackerte irre vor sich hin. „Egal! Aber Liebling, jede Geschichte braucht einen Held und einen Bösewicht, und sie ist gar öd, wenns einem der beiden zu einfach widerfährt. So spielen wir alle unsere Rolle, dem Pöbel zur Freude.“

Jared begann nun, auf dem Seil auf- und ab zu wippen. Das Kind hatte längst aufgehört zu schluchzen und wimmerte nur noch fast unhörbar.

„Aber“, kreischte der Narr, „mir scheint, mein Auftritt hier und heute ist verdorben!“ Er deutete nach unten. Vicky wagte einen schnellen Blick in die Ränge und stellte fest, dass die meisten Leute das Zelt verlassen hatten. Einige wenige Erwachsene waren verblieben und deuteten wild gestikulierend und rufend zu ihnen hinauf.

Das Seil schwang nun gefährlich nach allen Seiten aus. Jared hatte sichtlich Mühe, sich im Gleichgewicht zu halten

„Ich stelle sie nun vor eine Entscheidung, Liebling! Fasst sie den Bösewicht und verhindert zukünftiges Ungemach —ODER rettet sie das Kind?“

Er ließ das Mädchen fallen.

***

Vicky strich der Kleinen noch einmal über die Wange, bevor der Soldat der Flammenden Faust mit ihr auf der Suche nach ihren Eltern davon trabte.

Lindendorf benutze Mono, um sich eine weitere Zigarre anzuzünden.

„Wir haben das Giftpulver sichergestellt. In jedem dritten Ballon, wie vermutet.“ Er blies den Rauch aus.
„Diese Welt findet stets neue Wege, mich schockiert und fassungslos zurückzulassen.“

Vicky nickte nur und zog ihren weiten Mantel fester um sich. Die Schnittwunden an ihrem Körper schmerzten fast so sehr wie ihr Kopf.

„Wir werden in unserem Bericht vermerken, dass wohl etwas von dem Pulver ausgetreten ist. Hat wohl Halluzinationen verursacht. Wie sollen wir uns sonst die gigantische Fledermaus erklären?“

Er zwinkerte Vicky zu und reichte ihr Mono zurück.

Sie ließ ihren kleinen Begleiter in seiner Lieblingstasche verschwinden und streckte sich.

„War es ein Fehler? Ihn davonkommen zu lassen?“

Lindendorf zuckte mit den Schultern.

„Du warst in einer unmöglichen Situation und hast das Richtige getan. Ohne dich wären heute viele Menschen gestorben. Und wir kriegen den Bastard schon, früher oder später.“

Vicky nickte.

„Ich gehe dann.“

„Ja, mach das. He, Vicky?“

„Ja?“

„Siehst gut aus.“
 

Micha

Kutte
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Der Narr zieht seinen Hut, die Tat, sie dünkt gar herrlich, teuflisch, böse! :D

Punkt für dich, und das nicht nur, "weil man das so macht"! Du hast Jared ziemlich genau so getroffen, wie ich ihn mir vorstelle. Hut ab! :)
 

skull

Thronfolger
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Danke danke. Du bekommst aber auch nen Punkt von mir, da Du Dir echt Mühe gegeben hast, auf Vickys Hintergrund einzugehen, und da Deine Geschichte-wie-Vicky-nach-BG-kam mir besser gefällt, als meine ursprüngliche Idee.:up:

Ich hatte eher befürchtet, dass mein Jared zu weit von Deiner ursprünglichen Version entfernt sein würde... aber bei Dir legt er ja auch ne bemerkenswerte Karriere hin.:D Später mehr.
 

Gala

Labyrinth-Leichnam
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Boa.

Ich enthalte mich.

Die sind einfach beide perfekt.
 

Timestop

Running out of Time
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Hm...

Also...

Ich weiss noch nicht.

Ich mag Michas Charakter ja wie schon gesagt nicht. Konnte nie viel mit Horrorfilmen mit den Bösewichten als Protagonisten anfangen. Höchstens eine angewiderte Faszination (so grausig, ich kann nicht wegsehen), die übrigbleibt.

Dennoch schafft er es immer so gut mich bei Leselaune zu halten. Man sieht es aus der Sicht des Antagonisten, dem "Guten", der gut getroffen ist, auch geschickt seine Chance zum Triumph hingelegt bekommt und natürlich doch scheitert.
Jared wurde nochmal gepimpt mit den Schattenfähigkeiten aus der Vorstory (RIP Darghands Sahudja).
Bravo.

Aber, haha, Skull inszeniert das Duell Ermittler gegen Psychokiller genauso gekonnt, mit dem Spritzer mehr augenzwinkernden Humor. Batman (wohl aufgrund einer Beschwerde der Übermächtigkeit von Vicky mit Kryptonit belegt am Anfang [moment, das mit dem Kryptonit war wer anders, egal]) gegen den ganz bösen Joker.
Gastauftritt Aerie (gemein).
Ich neige zu Skull, weil Micha seine Charakter dann doch zu sehr aufmotzt um dessen Hals zu retten.
 

Gala

Labyrinth-Leichnam
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Ich neige zu Skull, weil Micha seine Charakter dann doch zu sehr aufmotzt um dessen Hals zu retten.
Dafür greift skull zu einem billigen Trick, um dasselbe zu erreichen. Es ist nämlich überhaupt nicht klar, WIE der Gnom bei ihm entkommt. Da klafft ein großes Loch in seiner Geschichte.

Ich bleibe bei meiner Enthaltung.
 

skull

Thronfolger
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Er läuft weg.
Edit: So, Morgenmuffeligkeit überstanden, ich reiche den ;) nach.;)
 
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Micha

Kutte
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Joa, das "wie entkommt Jared" ist mir auch aufgefallen. Anererseits sollte in Geschichten meiner Meinung nach auch nicht alles aufgedeckt werden - ich finde, man kann durchaus einige Dinge der Phantasie des Lesers überlassen. :)

Der "Trick" mit der Dame war der mir selbst auferlegten Notwendigkeit geschuldet, die Geschichte möglichst nahtlos in skulls Hintergrund einzupassen und trotzdem halbwegs kompatibel zu meinen bisherigen Geschichten zu machen. Das ist mir zugegebenermaßen nicht so ganz gelungen - aber wie gesagt, ich bin zufrieden mit dem Ergebnis. :)

@Timestop
Charakter aufgemotzt hin oder her - wir hatten hier einen Drachen im Wettbewerb. :D Und den Tipp mit den Schattenfähigkeiten hab ich ja sogar erst deinem eigenen Kommentar zu meiner Geschichte der letzten Runde entnommen. ;) Aber ob du's glaubst oder nicht - ich versuche Jared wirklich jedesmal "schwächer" dastehen zu lassen. Irgendwie schreiben sich seine Parts immer wie von selbst und dann kommt sowas bei raus... hehe.

@Gala
Danke für das Lob!
 

Timestop

Running out of Time
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Ja, aufmotzen war das falsche Wort, das fand ich eigentlich interessant, da ja Vicky das auch gewitzt kontern darf. Dass der Charakter auflevelt und Fähigkeiten aufsaugt wie ein Pokemon ist clever. Ich freue mich schon auf Flügel und noch mehr Charme beim nächsten mal.:D
Nein, die Dame ex machina (und da ist die Gute ja gerade kein Gott, eher sogar mehr, sonst wärs mal echtes Deus) fand ich dann fies.:p
Obwohl es natürlich eine schöne Auflösung ist, aber halt so imba. Ein Cheat.:D

Dass Skull den Gegenspieler durch Offscreentätigkeit entkommen lässt, ja, ok, ihm lass ich das durchgehen, wegen Vickys hübschen Augen. Mysteriös und so.
Na, ich hab noch nicht entschieden, echt nicht einfach.
 

Mantis

Heilende Hände
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Wirklich keine einfache Entscheidung... ich finde beide Geschichten toll :)

Micha schafft es, dass ich Sigil vor mir sehe, und bringt seine eigene Geschichte genial in Einklang mit Vickys Hintergrundstory. :up: Ich mag es sehr, wenn die Wettbewerbsbeiträge nicht einfach so im Nichts schweben, sondern etwas mit den vorherigen Geschichten oder den Hintergrunderklärungen zu tun haben. Schön gelöst :)
Auch die Dialoge fand ich toll - ich bin ja auch eine von denen, die mit Jared (anfangs) nichts anfangen konnte. Verrückter Psychopathenmörder! :eek:
Aber ich muss dann doch zugeben, dass ich ihn spätestens seit dieser Geschichte cool finde ^^
Als ich mit dem Lesen durch war, dachte ich eigentlich schon zu wissen, an wen mein Punkt gehen würde.

Und dann hab ich skulls Geschichte gelesen, und war erstmal lange Zeit unentschlossen.
Mich spricht die Atmosphäre in skulls Baldurs Tor viel weniger an als die von Michas Sigil, dafür fand ich die Details schön, die Anspielungen auf das PC-Spiel; besonders die abgestürzte Aerie und der schwätzende Quayle, der in dieser Geschichte ebenso nervig rüberkommt wie im Zirkus-Quest - ich hatte beim Lesen auch den Eindruck, dass selbst Vicky verzweifelt nach der "Fortfahren"-Taste gesucht hat :D
Was mich dann letztendlich überzeugt hat - dann auch im Vergleich zu Michas Geschichte - waren die Dialoge. Das nicht ganz gut verlaufende Verhör, durch die Impertinenz des Narren zunichte gemacht, und natürlich der Showdown auf dem Hochseil - toll :up:
 

Aurelia

Lichtbringerin*
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Mein Punkt geht an Skull, weil mir seine Charaktere besser gefallen haben. Die ausgemergelte Vicky, die mit ihrer verblassenden Schönheit hadert und den Jared à la Stephen King's Es. :up:
Von der Story her waren beide Geschichten top und hatten dem Leser ein umfangreiches Paket an Spannung, Witz und Dramatik zu bieten. Echt klasse. :up:

@all
Eure Stories zu lesen ist schöner als zur besten Sendezeit fernzusehen, ehrlich. ;) (Äh, und das ist ein Kompliment ^^)
 

Micha

Kutte
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Na, das ist ein deutliches und berechtigtes Ergebnis, denke ich. Gratuliere, skull! :)
 
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