Micha
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Ein großer Fehler
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"Vicky Vicktory, Tochter des Varg Vicktory, Angehörige der Legio V.! Du wirst für schuldig befunden, ein Wesen verletzt zu haben, dass sich der Gunst der Dame erfreut. Auf dieses Verbrechen steht seit jeher der Tod, -"
Einen Günstling der Dame? Wie konnte... "NEIN!" - Während Vicky nur ungläubig und mit offenem Mund auf ihrer Bank sitzen konnte, war ihr Adoptivvater hinter ihr aufgesprungen.
"DAS KÖNNT IHR NICHT MA-" - der Rest des Satzes wurde von einem schmerzerfüllten Keuchen verschluckt, als der stämmige Krieger unter einem Blitz zusammenzuckte, der sich aus dem Stab des Richters gelöst hatte. Sofort darauf standen zwei Wächterkonstrukte links und rechts von ihm und drückten den Anführer des Nachrichtendienstes der Legio V. unerbittlich zurück auf seinen Platz.
Vicky war übel. Auch ohne die Fesseln, mit denen sie an die Anklagebank gebunden war, hätte sie sich kaum rühren können. Wie konnte das nur -? Da fiel ihr Blick auf die andere Seite des Saales, wo ein ihr so wohlbekanntes Gesicht das Geschehen wortlos verfolgte - ohne Rührung, sogar ohne auch nur zu zwinkern. Immer nur dieses Grinsen. Wie sie es hasste... sie musste unwillkürlich an das erste Mal denken, wo sie diesen furchtbaren Narren gesehen hatte...
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Vicky war bereits einige Jahre im Dienst der Legio V. Sie wusste, dass sie gut war. Manchmal zu sorglos - für ihren Vater viel zu oft zu sorglos - doch ohne Zweifel eine der Besten ihres Faches. Um so mehr erzürnte es sie, dass in den letzten Wochen absolut nichts zu funktionieren schien. Dabei war der Auftrag so einfach!
Ein Tiefling war in der Stadt aufgetaucht. Innerhalb kürzester Zeit hatte er die Unterwelt gehörig durcheinandergewirbelt und es verstanden, einen beträchtlichen Anteil des Rauschkrautmarktes unter seine Kontrolle zubringen. Er ging dabei äußerst zielstrebig vor. Die etablierten Gilden wurden bestochen oder mit Versprechungen auf seine Seite gezogen. Und wo der Zucker versagte, packte er die Peitsche aus.
Den Stiernackenclan, einst immerhin die drittgrößte Bande im Geschäft, hatte er innerhalb von nicht einmal einer Woche zerschlagen. Anderen Clans ging es nicht viel besser, doch waren sie seit jeher einander zu feind, um das nötige Bündnis einzugehen. Im Moment herrschte so etwas wie ein brüchiger Waffenstillstand, doch es war klar, dass dieser nicht von Dauer sein würde.
Der Tiefling selbst blieb bei allen seinen Aktionen stets im Hintergrund. Niemand schien ihn zu kennen oder auch nur mit ihm gesprochen zu haben. Hinter vorgehaltener Hand wurde er allseits nur ehrfürchtig "der Alte" genannt.
An welchem Punkt die Legio auf ihn aufmerksam geworden war, konnte Vicky nicht sagen. Ihr Vater hatte sich erstaunlich bedeckt gehalten, als sie ihn nach Einzelheiten bedrängte. Unzufrieden musste sie einsehen, dass ihr Charme den alten Haudegen diesmal nicht umstimmen würde. Es war ihm sichtlich nicht einfach gefallen, sie überhaupt einzubinden. "Vicky", hatte er gesagt, "ich will dich da nicht mit hineinziehen, doch du bist die Beste, die wir haben. Wenn es eine schaffen kann, etwas über diesen Tiefling herauszufinden, dann du."
Sie hatte sich geschmeichelt gefühlt und sich voller Elan auf die Aufgabe gestürzt. Aber je mehr sie nachforschte, desto frustrierender wurde ihre Suche. Zeugen verschwanden. Ein Tatort ging in Flammen auf. Und selbst ihr sonst so dienlicher Charme zeigte einfach keinen Erfolg.
Doch dann kam Bewegung in den Fall. Sie hatte zwei Tage lang eine heiße Spur zu einem Mann verfolgt, der einen Angriff der Bande des Alten überlebt hatte, indem er sich totstellte. Dabei konnte er wohl einen Blick auf das Gesicht des Tieflings erblicken – und einen Teil eines Gesprächs belauschen.
Das hatte ihr jedenfalls der Leiter eines Sanatoriums erzählt, wo sich Landron – wie sich der arme Teufel nannte – kurzzeitig hingeflüchtet hatte. Er blieb nicht lange, rannte noch in der selben Nacht wieder davon. Am Morgen stürzte das Gebäude ein und begrub alle Insassen und einen Teil des Pflegepersonals unter sich. Am Abend dann waren alle, die dem Einsturz entgangen waren, tot.
Vicky hatte sich selbst still beglückwünscht, dass sie dieses eine Mal schneller gewesen war – nur wenige Stunden später hätte ihr der Leiter der Einrichtung nichts mehr sagen können, denn er trieb bäuchlings im Abwasserkanal. Und reichlich tot. Vicky machte sich sofort fieberhaft auf die Suche nach Landron, wissend, dass sie in einem ungleichen Rennen steckte. Sie hatte den Zeitvorsprung, doch ihr unsichtbarer Feind scheinbar unerschöpfliche Ressourcen.
Dann war ein Brief unter ihrer Tür durchgeschoben worden. Sie entdeckte ihn erst, als sie total erschöpft und frustriert abends nach Hause kam. Mit einem Tritt ihrer Lederstiefel hatte sie ihn achtlos in eine Ecke befördert, ohne davon auch nur Notiz zu nehmen. Sie sehnte sich nach einem langen, heißen Bad und einer guten Zigarette. Erst als Mono aufgeregt klapperte und immer wieder auf die besagte Ecke deutete, entdeckte sie das Papier:
"Landron ist mein Name und gelauscht hat mein Ohr zur falschen Zeit an falscher Stell'!
Das Wissen um die schrecklich' Kunde mag ich nicht ins Grabe mit mir nehmen!
Magst von der verbot'nen Fruchte naschen, so komm' zum alten Tempel Aoskars!
Eile dich, des Totenvogels Schwingen hör ich wohl schon rauschen, seine Gnade mir in Bälde zu gewähren..."
Übermüdet und aufs Äußerste gespannt war Vicky daraufhin sofort wieder aufgebrochen. Aoskars Tempel... sie schauderte ein wenig. Niemand in Sigil ging gerne an diesen Ort. Dort hatte einst der Gott der Portale versuchte, der Dame die Stirn zu bieten. Nur die Ruinen des Tempels und ein verrückter Dabus erinnerten heute noch an den Moment, als ein einziger Gedanke von ihr dem Unsterblichen ein Ende bereitete und ihn unter den Trümmern seines einstürzenden Tempels begrub. Niemand lebte heute dort noch und es hieß, dass manchmal die Geister der begrabenen Priester umgingen. Nun, vor Geistern hatte Vicky keine Angst. Sie bleckte die Zähne und schritt noch ein wenig schneller...
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Endlich hatte sie die Tempelruine erreicht. Vorsichtig erklomm Vicky die ersten Trümmer. Sie verfluchte den Umstand, dass sie nicht in ihre dämonische Gestalt wechseln und einfach die Mauern überfliegen konnte. Doch sie brauchte Landon, und er musste ihr vertrauen. Wer wusste schon, wie der Anblick eines Dämons in diesem Moment auf seinen Geisteszustand wirken mochte.
Eine halbe Ewigkeit später stand sie gebeugt hinter einer Säule, vor sich den Innenhof des Tempels. Eine einzelne Fackel steckte dort in der Mitte und tauchte ihre Umgebung in schaurig flackerndes Licht. Tanzende Schatten strichen über den Boden und brachen sich an der menschengroßen Figur, die am äußeren Rande des Lichtkreises regungslos am Boden hockte. Die Sukkubus fingerte an ihrer Armbrust und machte sie schussbereit.
Vicky hatte die Szenerie dann eine Zeit lang beobachtet. Nichts hatte sich bewegt. Ihr war klar, dass sie sich aus der Deckung begeben musste, um zu der Figur zu gelangen. Sie rang eine Weile mit sich – in ihr schrillten sämtliche Alarmglocken Sturm. Doch eigentlich hatte sie keine andere Wahl – Vicky brauchte Ergebnisse, und zwar schnell.
Endlich gelangte sie zu einer Entscheidung. Sie holte tief Luft und huschte dann gebeugt über die freie Fläche, als... nichts geschah. Leise keuchend und argwöhnisch ihre Umgebung musternd stand sie jetzt vor der Figur, die zusammengesunken unter einem Kapuzenmantel auf dem Boden hockte.
Als sie dann leicht an der Kapuze zog, bot sich ihr ein Bild des Grauens: vor ihr hockte ein Toter. Sie war sich dessen ziemlich sicher, denn kein Mensch hätte eine derartige Wunde an der Kehle überleben können. Viel Blut war aus dem sauberen Schnitt ausgetreten, der tief in den Hals eingedrungen war. Es bildete schwarze Klumpen unterhalb der Eintrittswunde und hatte sich auf die Kleidung des Mannes ergossen.
Schon einige Stunden tot, Starre eingesetzt, kommentierte die Ermittlerin in ihr, während Vickys Augen an dem Mann entlangwanderten.
Kiefernstellung ungewöhnlich, hat vielleicht etwas im Mund. Angeekelt zog die Sukkubus die Kiefern des Mannes auseinander. Sie fand tatsächlich einen zusammengeknüllten Zettel.
Was für ein Klischee..., dachte sie, als sie das Blatt auseinanderfaltete.
"Gestatten, Landron war der Name und gelauscht hatt' ich zuviel!
Des Todesboten Schwingen trugen mich davon,
Im Geist gebrochen, und am Hals von spitzer Zunge wohl geküsst.
Hier endet deine Suche, Schnüfflerin,
Sonst grüßen dich die Toten bald in ihrem Reigen."
Vicky unterdrückte den Fluch, der ihr auf den Lippen lag und knüllte den Zettel in der Faust zusammen, als sie eine kleine Bewegung links von ihr wahrnahm. Ruckartig drehte sie sich um und feuerte ihre Armbrust auf die kleine Gestalt ab, die dort auf einem Schutthaufen hockte. Zum Glück hatte sie Lähmungsbolzen geladen! Doch der Gnom drückte sich blitzschnell ab und sprang mit einem Salto auf den Boden. Der Bolzen klapperte wirkungslos hinter ihm an einer Tempelmauer.
In einem seltsam grotesken Hüpftanz kam der Gnom auf sie zugesprungen.
"Eins, und drei, und hundertzwei, der Armen Brust hau ich entzwei, auf dass die Armbrust kann kein Schaden machen! Hehehe... Da sei mal froh, dass du mich nicht getroffen hast, sonst verginge dir wohl gar zu schnell das süße Lachen!" - mit diesen Worten kam der Gnom einen Schritt vor Vicky zum Stehen.
Er war recht klein und hielt einen seltsamen Stab in seinen Händen. Als er seinen Kapuzenmantel zurückzog, schrak Vicky ein wenig zurück. Damals sah sie zum ersten Mal dieses grausame, seltsam verzerrte Grinsen, dass das halbe Gesicht des kleinen Wesens einnahm und dass sie bald darauf in ihre Träume verfolgen sollte. Auf dem Kopf trug er eine Narrenkappe mit kleinen Schellen dran.
Moment mal... Schellen?, hatte Vicky sich damals als erstes gedacht.
"Wer seid Ihr? WAS seid ihr? Und warum haben die Schellen an Eurem Hut keinen Krach gemacht?"
"Oh, der guten Fragen drei, das muss man Euch wohl lassen. Jared werd' ich oft genannt, das ist der Name. Auch den Narren nennt man mich, das ist dann wohl die Profession. Doch wenn man zu diesem Jared gelegentlich auch Narr und Clown zu sagen pflegt, so spricht man eher selten einen Clown wohl auch mit Jared an, denn sind wir ehrlich, gibts mehr Narren auf der Welt als Jareds.
Doch gäb es noch 'nen Narrem diesen Namens, müsst ich ihm wohl die Trommelfelle stechen, denn kein and'rer Clown soll auf diesen Namen hören können! Einzigartig bin ich – und ich werd's wohl ewig bleiben.
Nun zur dritten Frage, die der Schellen. Die Narrenkappe zieren sie gar königlich, doch müsst Ihrs wohl bekennen, für leise Wege sind sie eher hinderlich. Deshalb leg ich sanft den Finger an sie an und mache 'Pssst!' - und kein Klimpern wird sodann die ruhigen Gassen stören!"
Vickys Kiefern mahlten leise bei dem Monolog des Gnoms. Sie hatte das getrocknete Blut bemerkt, das an der Spitze des Stabes in seinen Händen schwarze Klumpen bildete. Ihr Instinkt sagte ihr, dass es von Landron stammte. Vickys Nerven vibrierten leicht. Obwohl die Figur vor ihr klein und schmächtig war, ging doch eine unterschwellige Gefahr von ihr aus. Die Sukkubus steckte langsam die leergeschossene Armbrust weg und holte umständlich ihre Zigaretten heraus.
"So... Jared. Was weißt du über Landron hier?"
"Landron, Landron... ja, da klingelt 'was, und es sind diesmal nicht die Schellen! Irre war er, ohne Zweifel. Kleiner Fisch, verschluckte sich an einer Blase heißer Luft! Aufgebläht hat's ihn dadurch! Zuviel falsches Interesse hat's geweckt..."
"Du hast ihn umgebracht." Keine Frage, nur eine Feststellung.
"Natürlich! Musste doch die Luft ablassen!"
Mittlerweile hatte Vicky eine Zigarette auf ihr Mundstück gesteckt und umständlich angezündet. Als sie langsam daran zog, war nur das leise Knistern des Tabaks zu hören. Er zwinkerte nicht. Das beunruhigte sie irgendwie noch etwas mehr. Betont gelassen ließ sie den Rauch aus ihren Lungen entweichen.
"Du kennst den Alten. Wer ist er?"
"Auch wenn Jared alt ist, ist er nicht der Alte, soviel darf er dir verraten. Ein Untenler ist er, das auch. Mehr erfährst du wie alle and'ren zu gegeb'ner Zeit. Unzufrieden? Aber aber, eine Botschaft hab ich wohl für dich von ihm: er wünscht keinen Streit mit Legio, deshalb gab's Landron als den berühmten Schuss vor'n Bug serviert. Versteh's und halt dich dran, dann sind wir dir alle herzlich gut gewogen! Und nun, kleine Flatterliese, sagt des Narren Drehbuch 'Abgang'!"
Er streckte auf einmal blitzschnell den rechten Arm vor, und warf ein braunes Pulver in die Luft, das fast augenblicklich in einem ungeheuren Farb- und Geräuschregen explodierte. Vicky zuckte zusammen und musste sich abwenden. Nur Sekundenbruchteile später war das Spektakel schon wieder vorbei. Vicky öffnete ihre Augen und schaute sich um, doch von Jared war nichts zu sehen. Sie hörte nur ein leises, meckerndes Lachen und kleine Trippelschritte, die sich in Richtung Eingang entfernten. Er musste sich unsichtbar gemacht haben! Was für ein mieser, kleiner Drecksack! Als sie sich auf den Heimweg machte, schäumte sie vor Wut, dass ihr schon wieder eine Tür zugestoßen wurde.
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Ein langes, heißes Bad später hatte Vicky wieder zu ihrer kühlen Ruhe zurückgefunden, mit der sie ihre Fälle zu betrachten pflegte. Sie konnte ihrem Vater nicht ohne Ergebnisse gegenübertreten. Natürlich hätte er sie dafür nie gerügt, aber... sie war immerhin kein kleines Mädchen mehr, das bei jedem Rückschlag unter Vaters Rockzipfel kriecht!
Zurück am Schreibtisch begann sie, sich jeden einzelnen Fall noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Sie ging Monos Aufzeichnungen von den Tatorten immer und immer wieder durch. Tatsächlich konnte sie in gut der Hälfte aller Fälle irgendwo in der Zuschauermenge eine kleine Gestalt erkennen. Vielleicht den Gnom. Sicherlich den Gnom. Dann stutzte sie. Sie sah gerade durch Monos Augen noch einmal über den Vorplatz des eingestürzten Sanatoriums. Da stand unverkennbar der Gnom und blickte sie an! Sein Grinsen war selbst unter der das Gesicht halb verdeckenden Kapuze deutlich zu erkennen. Daran müsste sie sich doch erinnern? Diesen Blick konnte man nicht übersehen. In ihrer Erinnerung war der Platz neben ihr leer. Hm... sollte Mono etwa die Tarnung des Gnoms durchschauen können? Ein leichtes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Damit konnte man doch arbeiten!
Und dann dachte sie sich den Plan aus...
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Es war Nacht, zumindest, soweit man das in der Stadt der Tore überhaupt beurteilen konnte. Vicky hatte zwei Tage lang ihre Vorbereitungen getroffen. Sie hatte Gerüchte streuen lassen, dass es noch einen Überlebenden gab. Ein Wirt würde jedem, den es interessierte, erzählen, dass dieser sich völlig verstört an ihn um Hilfe gewandt habe. Aber der Wirt hätte darauf nur bedauernd mit den Schultern gezuckt und nichts davon wissen wollen. Würde sich wohl in so einer leerstehenden Bruchbude im Armenviertel versteckt halten. Nicht sein Bier... apropos Bier, noch eins? Danke schön.
Das Haus gehörte einem Mann, der Vicky noch mehr als einen Gefallen schuldete. Er nutzte es gelegentlich, um Treffen unter besonderen Umständen und ohne lästige Zuschauer abwickeln zu können. Die Sukkubus hatte alle Einrichtung bis auf einen Stuhl in der Mitte des Raumes entfernen lassen. Im Schutze der Dunkelheit war sie dann durch einen Fluchttunnel aus dem Gebäude der Legio abgehauen.
Nun saß sie in einen dunklen Mantel gehüllt auf dem Stuhl in der Hütte. Die Armbrust ruhte unter diesem schussbereit auf ihren Schenkeln. Vicky war sich sicher, dass niemand ihren Weg verfolgt hatte. Sie war nervös. Würde der Clown den Köder schlucken? Viel hing davon ab, wieviele der Gehilfen und Handlanger der Legio dem Feind vertraut waren. Andererseits konnte es sich der Alte wohl auch nicht leisten, solchen Gerüchten nicht nachzugehen... zuviel hing wohl von seiner Anonymität ab. Angespannt wartete Vicky, reglos auf ihrem Stuhl verharrend, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
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Ein leises Klicken von der Tür her ließ die Sukkubus aus ihren Gedanken schrecken. Da, noch einmal ein Klicken! Ganz langsam und behutsam schwang die Tür auf. Unter dem Rand ihrer Kapuze hindurch erspähte Vicky eine kleine Gestalt, die hinter sich die Tür leise wieder schloss. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung – das musste Jared sein! Der Wicht sah sich sorgsam um, tänzelte dann zur Raummitte hin. Er blieb etwa zwei Schritt vor Vicky stehen. Sie sah, wie er den Kopf schieflegte und nachzudenken schien. Kurz sah sie einen Schatten über das Gesicht des Narren huschen, doch gleich darauf starrte er ihr wieder mit dem gleichen, monotonen Grinsen entgegen. Nach endlosen Sekunden fing er dann an zu sprechen:
"Sieh an, sieh an. Was hat die Katz denn da ins Haus geschleppt! Da hätt' ich Narr ja auch mit Pauken und Trompeten diesen gar so gastlichen Palast betreten können, 's Vöglein wär ja doch nicht ausgeflogen! Nein, sogar im Gegenteil, ist's doch kein Vöglein, sondern eine Spinne, geduldig wartend im gespannten Netz! Und Jared hier ist auch noch zügig dumm hineingetappt! Gut gespielt, klein Püppchen, doch muss der Narr hier leider dich enttäuschen!
Die Drohung hast du ignoriert, nun sollst an den Folgen deiner Torheit du ersticken! Und wenn du schön am röcheln bist, ist Jared hilfreich und verschafft dem armen Körper Luft. Nur – atmen tun die meisten trotzdem nimmer! Hat das Püppchen noch ein letztes Wörtlein mitzuteilen?"
"Du bist dir deiner Sache zu gewiss.", entgegnete Vicky und schlug mit einer schnellen Bewegung den Mantel zurück. Darunter kam die Armbrust zum Vorschein. An deren hinterem Ende saß Mono, einen kleinen Hebel in der Hand.
"Aber aber, kleines Püppchen! Bess're letzte Worte hat der Narr hier schon vernommen! 'Sein oder nicht sein', sprach der eine – und fand's dann doch recht schnell heraus, was seine Zukunft für ihn hat bereitgehalten. 'Handelt einer mit Honig, er leckt zuweilen die Finger!', sagte mal ein Zweiter. Und auch wenn ich dies Sprüchlein reichlich sinnig fand, musst er doch kurz darauf dann Farb' bekennen – und Ihr ratet richtig! Diese Farbe war natürlich rot! Und rot wird auch die Eure sein!
Und überhaupt, was wollt Ihr mit dem Böglein da? Ich ruf die Schatten, meine Freunde, wie's mir einst ein guter Narr gezeigt! Hab sozusagen seine Lehren in mich aufgesogen! Das nächste Mal, wenn Ihr mich seht, wird Euch des Narrenstabes Zunge auf die letzte Reise schicken! Adieu, klein Püppchen!"
Mit einem Mal war der Narr verschwunden. Vicky hörte seine kleinen Trippelschritte auf dem Boden. Sie schloss die Augen, um sich voll auf ihr Gehört zu konzentrieren.
"Ah, kleines Püppchen, ist das etwa deine ganze List? Wo's Aug' versagt, da muss das Trommelfelle ran? Na, Überraschung, sag' ich nur!" - plötzlich schien des Narren Stimme von überall im Raum gleichzeitig zu erschallen –
"Des Narren erster Trick ist doch stets das Reden mit dem Bauche!" Jared stieß ein meckerndes Lachen aus.
Vicky stellten sich die Nackenhaare auf. Sie wusste, dass Jared irgendwo hinter ihr herumspringen musste, auch wenn sie sich nicht mehr auf ihre Ohren verlassen konnte. Hatte sie ihn richtig eingeschätzt? Alle Opfer waren von vorn erstochen worden... sie hoffte, dass dieser kleine Irre einfach nicht anders konnte. Sie sollte sich nicht getäuscht haben.
"So macht das doch alles keinen Spaß!", schimpfte Jared deutlich vernehmbar hinter Vicky.
"Du musst schon tanzen mit den Schatten! Ins Leere stechen, Wund' um Wund' kassieren und am Ende um den Gnadenstoße röcheln! So ruhig, wie du hier sitzt, so ist's doch keine Schau fürs Publikum! Wird's bald?! AHH! Dann werd' ich die Sache nun halt schnell zu Ende bringen müssen!"
Vicky hörte Jared wieder um den Stuhl trippeln. Er stand jetzt irgendwo links vor ihr. Genauer konnte sie es nicht sagen, da er wieder mit Bauchreden angefangen hatte.
"Triff deinen Schöpfer, Scheusal... "
Sie spürte plötzlich, dass er auf sie zugesprungen kam. Auf diesen Moment hatte die Sukkubus nur gewartet. Blitzschnell riss sie die Armbrust herum. Mono drückte in dem Moment ab, als Jared direkt vor vor der Armbrust war. Der Aufprall des Bolzens riss den kleinen Körper mitten im Sprung nach hinten und ließ ihn hart auf den Boden prallen. Er war sofort wieder sichtbar geworden. Ein leises Gurgeln drang aus der Kehle des Narren und seine Glieder zuckten noch ein, zwei Mal – dann setzte die Wirkung des Betäubungsmittels ein.
"Danke, kleiner Freund.", hauchte Vicky und gab dem Konstrukt einen Kuss. Sie konnte schwören, dass es leicht errötete. Dann sah sie nach Jared. Gut, lebte noch. Das Grinsen war ihm jedenfalls gründlich vergangen, der Bolzen steckte tief in seiner rechten Schulter. Sie nahm ich hoch und begab sich auf den Rückweg, ein triumphierendes Lächeln auf den Lippen...
Vicky lächelte nicht lange. Schon bevor sie die Zentrale der Legio V. betrat, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Sie stürmte die letzten Stufen hoch, rannte durch die Tür – und blieb wie angewurzelt stehen. Etwa zwanzig Wächterkonstrukte mit dem Zeichen der Dame auf der Brust hatten in der Lobby Aufstellung bezogen. Ihr Vater war gerade im Streit mit dem Anführer der Konstrukte, als die Sukkubus in den Raum polterte. Und dann... wurde sie fesgenommen. Jared wurde ihr aus den Armen gerissen. Vicky wollte Widerstand leisten – doch sie wusste, wie wenig es brachte, gegen die Konstrukte der Dame kämpfen zu wollen. Und fliehen? Gegen *ihren* Willen? Unmöglich in ihrer eigenen Stadt...
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" – ABER – "
Die Stimme des Richters riss Vicky aus ihren Gedanken.
"Aufgrund des persönlichen Wunsches des Geschädigten werdet Ihr, Vicky Vicktory, hiermit lediglich auf unbestimmte Zeit aus Sigil verbannt. Betretet Ihr die Stadt der Tore erneut, wird die Dame Euch keine weitere Gnade gewähren. Versteht Ihr, was das bedeutet?"
Wie gelähmt hatte Vicky die letzten Worte aufgenommen. Sie konnte nur matt nicken.
"Gut. Bereitet Euch nun auf den Ebenenwechsel vor, die Bannung wird sofort vollstreckt."
Vickys Blick traf den ihres Vaters. In seinen Augen spiegelten sich Angst und Erleichterung zugleich. Sie würde hier nicht sterben. Sie würden sich ab und an sehen können, das wusste sie. Vor ihr hüpfte Mono aufgeregt über die Tischplatte.
"Im Namen der Dame: Exil!"
Da bemerkte Vicky eine Bewegung am Rande ihrer Wahrnehmung und sie wirbelte mit dem Kopf herum. Jared hatte seinen Kopf schiefgelegt, das Grinsen schien noch etwas breiter zu werden. Eine Welle heißen Hasses durchzuckte die Sukkubus, als um sie herum die Luft zu verschwimmen begann. Sägende Kopfschmerzen erfüllten sie plötzlich, als der Ebenenwechsel begann und sie die Kontrolle über ihre Gestalt verlor. Das letzte, was sie in Sigil sah, war das Grinsen Jareds – und dann zwinkerte ihr der Narr zu...
~~~ EPILOG ~~~
Leise klickten die Arme des kleinen Modronen, als er sie um eine zerbrochene Dachschindel legte. Er begann zu drücken. Langsam wühlte er sich aus dem Abfallhaufen heraus, in den ihn das Portal geschleudert hatte. Er war nach der Verhandlung schnell aus dem Gerichtssaal verschwunden. Sigil war die Stadt der tausend Portale – und irgendeines davon musste einfach die gleiche Signatur aufweisen, wie das, durch das Vicky verschwunden war. Und nach längerer Suche hatte er Glück...
Das kleine Konstrukt stand in einer Seitenstraße einer großen, dreckigen Stadt. Sein Sucher begann, die umliegenden Mauern abzutasten. Er befand sich direkt neben einem Stadttor. "Baldurs Tor", war in großen, zum Teil abgeblätterten Lettern darüber zu lesen. Der Modron piepste leise und richtete sein Objektiv neu aus. Dann machte er sich auf die Suche...