Kraven
Dunkle Träume – Helle Tage
Oder: Eine Abhandlung über Realität und Erinnerung, unter Einberufung auf den durch Johann Wolfgang von Goethe geprägten Gegensatz „Dichtung und Wahrheit.“ Ein besonderes Augenmerk wird hierbei gelegt auf die wandelnde narrative- hey. Hey! Gib mir das Skript zurück, ich versuch, hier eine Geschichte zu- leg die Axt weg! Hörst du, leg sie
*Störgeräusche*
*Stille*
Wimps and Posers, leave the hall!
Großvater, erzähl mir eine Geschichte!“
„In Ordnung“, seufzte der alte Mann und richtete sich mühsam in seinem knarzenden Schaukelstuhl auf.
„Geh und hol dein Märchenbuch.“
„Nein, nein.“ Mit einer entschlossen vorgeschobenen Unterlippe schüttelte das kleine Mädchen den Kopf.
„Kein Märchen. Eine echte Geschichte.“
„Eine echte Geschichte?“
Mit einem amüsierten Lächeln betrachtete der alte Mann das ernsthafte Nicken seiner Enkelin.
„Erzähl mir von damals, als du jung warst.“
„Als ich jung war...“ Der Alte nickte. „In Ordnung, dann lass mich dich mitnehmen in eine Zeit, die schon sehr lange vergangen ist...“
„Als ich noch ein sehr junger Abenteurer war“, begann der Alte, „ging ich viel auf Reisen, die Welt zu erkunden und meine Fähigkeiten im Kampfe unter Beweis zu stellen.
Mein getreues Pferd an meiner Seite, zog ich durch die weiten Ebenen der Schwertküste Faeruns. Weit war der Weg, und beschwerlich, doch wir zogen frohen Mutes hin dannen, die Wunder zu bestaunen, welche Faerun uns bieten mochte.
Doch plötzlich“ zischte der Alte und hob theatralisch die Hände, „bebte die Erde! Ein Sturm kam auf, und der Himmel verdunkelte sich, als schwarze Gewitterwolken sich zusammenbrauten und Blitze auf die Erde schleuderten! Donner grollte, so laut, dass es einen weniger starken Krieger zu Boden gedrückt hätte!
Und ich sah nach Norden, und was ich dort sah, hätte ausgereicht, einen Paladin in seinem ureigenen Glauben zu erschüttern.“
Die Stimme des Alten hatte einen düsteren Unterton angenommen, und mit einem unmerklichen Lächeln registrierte er, dass seine Enkelin ihren Teddybären eng an die Brust presste.
„Ich sah einem Krieger stehen dort auf dem Hügel, eine gewaltige Axt umfassend, und aus tiefster Kehle schrie er die Verwünschungen der Neun Höllen auf die Erde herab.
Andere waren da, die ihm folgten, eine Armee der Finsternis, und sie trugen die Zeichen von Hunger, von Tod und Pestilenz, und ihnen folgte der Lärm eines ganzen Söldnerheeres, das sich aufmachte, das Land zu verwüsten, zu plündern, zu brandschatzen und zu schänden!“
„Was heißt das?“
„Äh...“ Der alte Mann blinzelte.
„Was bitte?“
„Was heißt 'schänden'?“ fragte das Mädchen und sah ihn aus großen Kulleraugen an.
„Das... ähm... frag deine... nein, frag nicht deine Mutter, die Götter mögen das behüten... ähm... das... das ist zwergisch!“
„Zwergisch?“
„Aber sicher. Zwerge packen das regelmäßig ans Ende ihrer Sätze, um eine Aussage zu bekräftigen. Ja. Genau.“
Er nickte zufrieden, bis er feststellte, dass das Mädchen immer noch argwöhnisch schaute.
„Großvater?“
Ein Seufzen.
„Ja, meine kleine Lotusblüte?“
„Woher kannst du zwergisch?“
Eine kurze Pause entstand, in der man dem zarten Gesang der Vögel lauschen konnte, wenn einem der Sinn danach stand. Der Schaukelstuhl knarrte leise.
„Das habe ich in den Minen von Moriatestetetum Klein-Ankachkastillen gelernt, als ich der Zwergenkönigin Gundel zwei Jahre lang zu körperlichen Diensten sein musste – als ihr Sportlehrer“, fügte er hastig hinzu, als er sah, wie Lotusblüte den Mund öffnen wollte.
Lotusblüte dachte kurz nach, dann nickte sie.
„Oh“, sagte sie.
„Okay.“
Der alte Mann nickte erleichtert.
„Darf ich dann weitererzählen?“
Das kleine Mädchen nickte.
„Gut. Also, es war... äh...“
Er blickte auf.
„Wo war ich?“
„Bei dem Krieger mit der Axt und der Armee der Finsternis, und dem Lärm, und der bebenden Erde!“ sagte Lotusblüte in eifrigem Tonfall.
„Ah, genau.“ Der Alte nickte und konzentrierte sich, bevor er die Erzählung wieder aufnahm.
„Ich wage nicht, mir in Erinnerung zu rufen, wie lange ihr Wüten andauerte, doch irgendwann zog die Stille wieder ein ins Land. Nichts war zu hören, kein Vogel wagte es, sein Lied erklingen zu lassen, und nichts bewegte sich im Unterholz. Die Welt, sie hielt den Atem an, gelähmt von dem Schrecken, den sie bezeugen musste.
Nur ich, ich schlich mich langsam heran an die Quelle dieses Lärms, und Ziva folgte mir, fast ebenso lautlos. Und so sollten wir die ersten Sterblichen sein, die den wundersamen Worten dieser Fremden lauschen sollten, Worte, die von Ehre sprachen, von Kampf und von Stahl!“
„Scheiße, für'n Freiluft-Festival ist hier echt tote Hose.“
„Drück's nicht so brutal aus. Wir sind halt noch im Kommen, du kannst nicht überall ausverkaufte Konzerte erwarten.“
„Ich erwarte keine ausverkauften Konzerte, aber das hier ist ne verdammte Bandprobe im Freien.“
„Schau mich nicht so an, ich hab uns genau an den Ort geführt, der auf der Karte verzeichnet war.“
„Auf der Karte war die Weide von An'Kenth verzeichnet. Ich seh hier keine beschissene Weide von An'Kenth.“
„Dann bist du ziemlich kurzsichtig für dein Alter. Siehst du das da?“
„Du meinst den Baum?“
„Meine Güte. Ja, ich meine den Baum. Mann, dass du es bis zum aufrechten Gang gebracht hast, ist schon ein kleines Wunder. Was für ein Baum ist das denn? Hm? Reicht die Naturkunde dafür?“
„Grad so, Spitzohr. Das ist ne Weide.“
„Ach, wirklich? Eine Weide, ja?“
„Hör zu, ich weiß nicht, ob dass das Baumknutscher-Equivalent zu 'Innen sind sie alle rosa' ist, aber dass da ist eine Weide, und nicht die Weide.“
„Oh, da ist ja auf einmal einer zum Experten aufgestiegen! Und woher willst du wissen, dass das da nicht die Weide ist, Grünhaut?“
„Zum Ersten, weil ich meinen Lebensunterhalt damit verdiene, solche Geschichten zu kennen.“
„Ja klar, jetzt spielt er die Sagenkunde aus. Uuuuh, die Weide ist nicht von Schmetterlingen eingehüllt, die sie in tausend Farben leuchten. Wäh, ich hör die sphärischen Klänge nicht. Die Welt ist so trostlos ohne all die Illusionen, an die ich mich klammern kann, buhu!“
„Neithan, dir ist bewusst, dass ich dich jederzeit in zwei Hälften brechen könnte, ja?“
„Droh mir mit Gewalt, doch die Wahrheit bleibt unantastbar!“
„Die Wahrheit ist, dass du zu blöd bist, ne Karte zu lesen.“
„Deine Unterstellungen sind so infam wie infantil! Hier, schau hin! Wir sind den Delimbyr nach Westen entlang gefahren...“
„Neithan.“
„Hier an den Spitzhornbergen nach Norden...“
„Neithan...“
„Und dann hier durch die Steppen der Purpurbüffel südwestlich, und jetzt sind wir genau-“
„Neithan!“
„Was?!“
„Du hältst die Karte falsch rum.“
Ein Junge von dreizehn Sommern mit platt anliegenden Haaren streckte den Kopf durch die Tür.
„Erzählt Opa wieder eine Geschichte?“
„Ja“, krähte Lotusblüte mit leuchtenden Augen. „Setz dich hin. Die Krieger der Apokalypse haben grade ihren Heerzug erklärt.“
„Einen Heerzug?“
„Ja“, nickte das Mädchen eifrig. „Sie haben all die Orte beschrieben, an denen sie waren, aufrechten Hauptes und mit blutigen Schwertern und so, um die Feinde des He Wi Me Tal zu bekämpfen!“
„Des...“ Der Junge runzelte die Stirn. „Des was?“
„Des He Wi Me Tal“, wiederholte Lotusblüte langsam, jede Silbe deutlich betonend. „Das ist eine orkische Gottheit, sagt Großvater.“
„Woah, cool!“ Das Gesicht des Jungen hellte sich auf. „Was macht der denn so?“
„Seine Feinde bekämpfen“, sagte der alte Mann würdevoll.
„Ja, das macht jeder Gott, aber ich meine... sonst so?“
„Sonst... ähm...“
Der Alte schüttelte den Kopf. „Ich habe im Laufe dieser Reise gelernt, dass es da nicht viel anderes gibt, was dieser Gott tut.“
„Und wie hast du das gelernt?“
„Ich habe die Lieder gehört, die ihm gewidmet wurden“, antwortete der Alte schlicht.
„Darf ich jetzt weiter erzählen?“
„Öhm...“ der Junge zuckte mit den Achseln.
„Klar, mach ruhig.“
„In Ordnung.“
Der Alte atmetete tief ein und fuhr dann fort.
„Und würdevoll erhobenen Hauptes blickte der Elf auf die Welt, und seinem Mund entströmte eine machtvolle Rede.“
„Das... ähm... das ist die elfische Leseart!“
„In dem Fall ist die elfische Leseart wohl ziemlich beschissen, hm?“
„Hör sofort auf, das Brauchtum meines Volkes zu diskriminieren!“
„Das mach in in der Sekunde, in der das Brauchtum deines Volkes aufhört, uns in die Scheiße zu reiten!“
„Es hat uns nicht 'in die Scheiße geritten'! Ich sage dir, wir sind hier am richtigen Ort!“
„Und ich hab dir gesagt, ich weiß, wie diese verdammte Weide aussieht.“
„Du kannst dich doch nicht alleine auf die Geschichten verlassen. Erinnerst du dich an die beiden Mädels, die Frodon abgeschleppt haben? Hey Frodon, erzähl doch, wie war das denn nochmal?“
„Ähm, also... eigentlich... ich möchte da jetzt nicht so in euren Streit reingezogen werden, und... ähm... das war ein sehr intimer Moment, der eigentlich in meine Privatsphäre-“
„Hör auf zu heulen und erzähl, wie die beiden ausgesehen haben.“
„Nun, die... die eine war ein schlichtes Mägdelein von frohem Gemüt, und die zweite war reich beschenkt mit den Gaben der Natur, und...“
„Siehst du, genau das mein ich. Wir wissen alle, dass die eine hässlich war und die andere fett und hässlich, aber so erzählt man keine Geschichte.“
„Hey, das kannst du so nicht sagen! Die... es geht doch auch um den Charakter, und die waren wirklich...“
„Hey Frodon, was hab ich dir gesagt? Was sollst du tun, wenn zwei Musiker sich unterhalten?“
„Die Klappe halten und mein Bassspiel üben.“
„Danke. Okay, wo war ich grade?“
„Dabei, das zarte Innenleben unseres Bassisten für ne faule Ausrede zu opfern.“
„Das ist keine faule Ausrede! Worauf ich hinaus will, ist, dass man kein epische Sage spinnen kann, wenn man einfach nur von nem Baum redet, okay? Man muss das ein bisschen aufpeppen, und das Ergebnis ist dieser ganze Mischmasch aus Schmetterlingen und sphärischen Klängen, von denen du gehört hast. Ich meine, grade du solltest dein Urteil doch nicht alleine auf Legenden legen.“
„Tu ich ja auch nicht. Die Legenden sind der eine Teil, auf den ich mich stütze.“
„Und der andere?“
„Ich war schonmal dort.“
„Boah, das ist echt mitreißend!“
„Ich weiß“, nickte der Alte bestätigend. „Doch der Elf war noch nicht fertig mit seiner Rede.“
„In Ordnung, also bevor jetzt hier irgendwer irgendwem Schulzuweisungen aufdrückt, möchte ich einfach nochmal erwähnen, was für einen Einfluss Nostalgie auf die Erinnerung hat. Ich, meine, ich... ähm...“
„Das hat er gesagt?“
„Mit jeder einzelnen Silbe“, bestätigte der Alte. „Seine Worte gingen über meine Ohren direkt in mein Herz, und in diesem Moment wusste ich, dass ich meine Bestimmung gefunden hatte.
Ich trat zwischen den Bäumen heraus, ging auf die Knie und schwor einen feierlichen Eid, mein Leben ihrer Sache zu widmen!
Und der Anführer sah mich mit aufrichtigem Blicke an, und er sprach zu mir...“
„Tschuldigung, Ihr wisst nicht zufällig den Weg nach Athkathla?“
„Und ich rief 'Ihr Götter des Krieges, mein Schwert, Euch zu dienen!
Ich suche ein Leben der Ehre, frei von falschem Stolz!
Und sollte ich versagen, so werde ich den Tod mit Freuden annehmen.'“
“Hey Jungs, er hat gesagt, er führt uns, bis wir da sind!“
„Echt, wir haben jetzt unseren eigenen Wegerich?“
„Ja, wir haben... was is'n ein Wegerich?“
„Na du weißt schon, ein Wegerich. So ein Typ, der mit Musikkappellen durch die Gegend zieht, der hilft, das Zeug durch die Gegend zu schleppen, der die kreischenden Mädels wegträgt...“
„Wann ist dir denn das letzte Mal ein kreischendes Mädchen zugelaufen?“
„Das war bei dieser Schlägerei, die Alte mit der zersplitterten Flasche.“
„Und so trug ich fortan den Titel des Roa'Di, des demütigen Dieners des He Wi Me Tal, und mit Stolz im Herzen trat ich ein in diese Bruderschaft!“
„Vater, erzählst du den Kindern wieder von diesem besonderen...“
„Nein, meine Liebe, über dieses Etablissement halte ich stillschweigen. Wobei meine Bruderschaft der Waffen und des Stahls ähnliche Gebäude manchmal aufsuchte, um dort ihre, wie sie es sagten, Hämmer kreisen zu-“
„Papa!“
„Ich meinte, ähm...“
„Großvater, was für ein Etablissimimont war das?“
„Eine Hobbyschmiede, Lotusblüte.“
Der alte Mann räusperte sich.
„Aber nun, da eure Mutter sich entschlossen hat, der Geschichte ebenfalls zuzuhören, sollten wir weg gehen von eitlem Waffenschmuck, und zurück zu der eigentlichen Geschichte, nicht wahr, Tochter?“
Eine hochgezogene Augenbraue später fing der alte Mann an, weiter zu erzählen.
„Und so zogen wir umher, auf der Suche nach Abenteuern, nach Schlachten, in denen wir unseren Wert beweisen konnten, auf dass das Blut an unseren Klingen niemals trocknen würde.“
Der alte Mann sprang auf.
„Und in der Tat! Es ergab sich die Gelegenheit! Mutig und aufrecht schritten wir durch die Lande, doch plötzlich hörten wir aus der Ferne das ledrige Knarzen schwerer Flügel, das Brüllen einer urzeitlichen Bestie, die nur darauf wartete, Angst und Schrecken im Lande zu verbreiten! Mit heißem Atem spie er uns Flammen entgegen, doch zögerten wir nicht, sondern stellten uns der Herausforderung mit gezogenen Waffen und offen zur Schau gestellter Furchtlosigkeit!“
„Oh Scheiße.“
„Die Erde bebte, als der Drache zu Boden sank, jede Klaue so groß wie ein Mann! Seine Augen erfassten uns mit dem erbarmungslosen Blick einer Bestie, die schon unzählige Menschen gefressen hatte! Mit dem gelassenen Gebaren von Männern, die wissen, dass sie dem Tode geweiht sind, gingen wir auf ihn zu.“
„Das ist ein verdammter Sumpfdrache, kommt dem Vieh bloß nicht zu nah. Die Winzlinge explodieren, sobald sie nervös werden, und den Geruch kriegt ihr nie wieder aus den Haaren.“
„Ich hieß meine Gefährten, zurückzubleiben, wusste ich doch, dass ich als Novize meinen Wert erst noch unter Beweis stellen musste.“
„Also Wegerich, du musst hier echt niemandem was beweisen. Komm schon, wir fahren einfach drumrum, okay? Pack das Schwert wieder weg.“
„Derart angefeuert von meinen Gefährten, rannte ich auf das Untier zu. Von wahrhaft epischen Ausmaßen war dieser Kampf, Krieger gegen Bestie, gestählter Wille gegen ungebändigte Wut! Ich wusste, ich würde diese Schlachtfeld im Siege verlassen – oder im Tode!“
„Ihr Götter, das ist ja nicht mit anzusehen.“
„Dass der sich mit dem Gefuchtel nichts abhackt...“
„Vielleicht ist das ja, ähm, eine Art Beruhigungsritual, um den kleinen Drachen schonend aus dem Weg zu bugsieren...“
„Vielleicht könntest du auch einfach die Klappe halten, während die Erwachsenen sich unterhalten.“
„Oh Scheiße, das Vieh bewegt sich!“
„Das ist schlecht, oder? Das heißt, dass der Blutdruck nach oben geht, und das heißt...“
„Mit wenigen gezielten Schlägen drang der Stahl meiner Klinge direkt durch das Herz der Bestie!“
„Runter!“
„Und mit einem letzten, schweren Seufzen ging das Untier in die Knie und starb den würdevollen Tod eines Äonen alten Lebewesens.“
„Alles okay, Leute?“
„Glaub schon. Hab ein bisschen Schlamm in die Ohren bekommen.“
„Ich sag's jetzt echt nicht gerne, Neithan, aber das ist kein Schlamm.“
„Das ist kein... oh.“
„Ja.“
„In Ordnung, also bevor ich mir das ganze Sumpfdrachengedärm aus den Haaren ziehe... wo ist der Wegerich?“
„Und so stand ich vor der erschlagenen Bestie, den bloßen Oberkörper beschienen von der untergehenden Abendsonne, in dem Wissen, für das Gute und Wahre eingestanden zu haben.“
„Da oben, in den Bäumen.“
„Dauert die Geschichte eigentlich noch lange?“
Mit einem aufrichtig betroffenen Gesichtsausdruck löste der alte Mann sich aus seiner Pose und setzte sich wieder hin.
„Langweile ich euch etwa?“
Seine Tochter schüttelte unter dem lautstarken Protest ihrer Kinder den Kopf.
„Die Kinder müssen bald ins Bett.“
Der Protest wurde lauter, und der alte Mann grinste.
„Die Geschichte selbst ist sehr sehr lang, aber ich kann sie natürlich auch ein andermal erzählen, wenn ihr wirklich wollt.“
Das Protestgeschrei wich einem lang gezogenen Heulen, dem man bruchstückhaft Satzfetzen wie „Das ist voll unfair!“ und „Nur noch ein bisschen!“ entnehmen konnte.
Es dauerte nicht lange, bis seine Tochter nachgab, und der alte Mann weitererzählen konnte.
„Wir zogen denn weiter, hin zu jenem geheimnisvollen Ort, den der Anführer der Gruppe uns genannt hatte: Athkathla, der Moloch, der manch braven Abenteurer schon verschlungen hatte. Viele Wunder sahen wir dort, viele schillernde Gestalten, aber vor allem sahen wir eines – sie, die Verlorenen, die Verirrten. All jene, die nach einer Stimme riefen, die sie führte, die ihren Leben neuen Sinn gab, sie alle waren dort und warteten nur auf uns.
Und wir suchten uns die größte Arena, die diese Stadt zu bieten hatte, um unsere Botschaft zu verkünden.“
„Wieder die Fünf Krüge, ja?“
„Hast du 'nen besseren Vorschlag?“
„Der Typ am Stadttor hat doch diese andere Spelunke genannt, die mit dem langen Namen...“
„Scheiße ja, diese... wie hieß die? Dunkle... irgendwas mit dunkle...“
„Dunkle Träume, helle Tage, genau! Warum nicht dahin?“
„Weil der Laden scheiße ist.“
„Du warst also schonmal da?“
„Red keinen Schwachsinn, ich geh doch nicht in einen Laden mit so nem beschissenen Namen! Das ist garantiert so ein Pseudo-avantgardistischer Intellektuellendrecksschuppen.“
„Mensch Tork, seit wann kennst du so lange Wörter?“
„Cared Meleth na lin Dal Lif, Spitzohr.“
„Sekunde, 'Mach Liebe mit deinem Beingele- oh.“
„Also sind es die Fünf Krüge.“
„Alter, du musst echt an deinem Sindarin feilen.“
„Muss ich nicht, ist ne Schwuchtelsprache.“
„Ich mein's ernst, so ne Beleidigung funktioniert nicht, wenn der angesprochene sie sich erst herleiten muss.“
„Ich weiß, du bist's nicht gewohnt, dein Hirn einzuschalten. Ein weiterer Grund, von dem Dunkle-Tage-Dingsda weg zu bleiben. Wenn die Barden eines Tages von uns singen, will ich nicht, dass sie uns mit so nem Schuppen in Verbindung bringen.“
„Tork, wir sind die Barden.“
„Ein weiterer Grund, mit gutem Beispiel voran zu gehen.“
„Und so fanden wir uns ein in dem heiligen Tempel des Bardentums. Flammenwände stoben auf, und unseretwegen bebte die Erde! Die Menge feierte unseren Namen, und unsere Lieder wurden gehört bis über die Stadtgrenzen hinweg!
Und mir wurde bewusst, in genau diesem Moment, dass dies der Ort war, an den diese Männer gehörten, der einzige Ort, an dem sie sein konnten. Und von allen Gefühlen befiel mich Dankbarkeit, dass ich dabei sein konnte.“
„Tja, schaut mich nicht so an. Genau so war's.“
„Natürlich“, schloss der Alte für diesen Abend seine Erzählung, „ist die Geschichte damit noch nicht zu Ende. Wir erlebten noch viele Abenteuer, retteten so manche Jungfrau und schlugen so manche Schlacht...
Doch ich fürchte, diese Geschichten muss ich ein andermal erzählen.“
Der alte Mann lächelte. „Eure Mutter schickt mich sonst ohne Abendessen zu Bett.“
Das Gemaule kam wieder auf, aber es war müde, und der Protest nur gespielt. Bald hatte der Alte die Stube wieder nur für sich allein.
Mit einer nachdenklichen Geste griff er nach einem dünnen Lederband, dass um seinen Hals lag, und zog daran. Ein einzelner, Daumennagel langer Zahn eines Sumpfdrachen kam zum Vorschein.
„Papa?“
Unbemerkt war seine Tochter von den Kinderzimmern zurück gekehrt.
„Was ist, meine Liebe?“
„Warum musst du bei deinen Geschichten immer so übertreiben? Lotusblüte wird die ganze nächste Woche Alpträume von diesem Drachen haben.“
Wieder lächelte der alte Mann.
„Ich übertreibe nicht. Es ist nur so, dass die reine Erinnerung manchmal nicht ausreicht, um den Gefühlen gerecht zu werden, welche die Jugend zu empfinden fähig ist.“
„Na, was du erzählst.“ Erneut zog seine Tochter die Augenbraue hoch.
Das hatte sie von ihrer Mutter, fand der Alte.
„Ich kümmere mich jetzt noch um das Geschirr. Kann ich dich hier alleine lassen?“
„Natürlich. Ein alter Krieger wie ich wird schon einen Weg finden, sich von den Staubmilben nicht fressen zu lassen.“
Ein Lächeln.
„Gute Nacht, Papa.“
„Gute Nacht.“
Lange noch saß der alte Mann in seinem Sessel, den Anhänger betrachtend und in Erinnerungen schwelgend.