Und? Hat der irische Whisky die Trauer gemildert? Mir war Harry Rowohlt zu sehr Kult, aber ein paar Lesungen, in denen es häufig um irische Trinker ging, hab ich von ihm im Radio gehört und die waren dann tatsächlich in aller Regel unterhaltsam. Hhmm... vielleicht könnte man ihm jetzt, wo man nicht mehr Gefahr läuft, am Ende noch 'nen Ruf als Lindenstraßen-Versteher wegzukriegen, doch mal wieder ein paar Sachen von ihm angucken/hören...
Ich hab heute "Das Kartell" von Don Winslow zuende gelesen. Der Mann ist neben Neal Stephenson mein Lieblingsautor unter den Lebenden und ich freue mich, dass jetzt, wo seine Klasse auch in Deutschland nicht mehr ignoriert werden kann, allerhand ältere Sachen von ihm in erstmaliger Übersetzung erscheinen. Ausserdem liebe ich sein Arbeitsethos - der Mann produziert wie eine Maschine - nur dass seine Bücher mich noch nie gelangweilt haben.
"Das Kartell" ist die Forsetzung seines bislang wichtigsten und auch gewichtigsten Romans "Tage der Toten". Der Held jenes Epos' Artur Keller ist auch der Held dieses Bandes. Wenn man noch von "Held" sprechen kann. Denn die Welt der Narco-Kriege, die Don Winslow da vor dem Leser ausbreitet, ist eine Welt, auf die Adornos Satz "Es gibt kein richtiges Leben im Falschen." so vollumfänglich zutrifft, wie noch auf keine andere Romanwelt.
Das Bedrückende ist freilich, dass die Geschehnisse, die er da schildert, nur insofern fiktiv sind, als Namen geändert und Details umgestellt wurden. Die Hölle, durch die man als Leser in den Spuren von Keller geführt wird, hat ihre ganz handfeste Entsprechung in der "real world".
Thema ist der "war on drugs" - der längste, mit Abstand teuerste und aussichtsloseste Krieg, in den sich die USA je begaben und der längst zu einem Bürgerkrieg in vielen Regionen Südamerikas eskaliert ist. Im Zentrum steht der blutige Bandenkrieg der Kartelle, allen voran der "Zetas", welcher bisher in Mexiko mehrere zehntausend Mordopfer forderte (sowie Millionen Flüchtlinge produzierte) und das Land in weiten Teilen in das verwandelte, was man gemeinhin unter "failed state" versteht: Ein Land, in dem das Recht des Stärkeren und Gewaltbereiteren - und sonst nichts zählt. In dem Regierung, Polizei und Armee für die Opfer (also die "Normalbevölkerung" die kleinen Leute und besonders natürlich die Armen) sich praktisch nicht von den Mordkommandos der Narcos unterscheiden. Präzise und anschaulich schildert Winslow, wie der Drogenkrieg Region nach Region überzieht, wie sämtliche menschlichen Werte von ihm zerbröselt werden, wie er nach und nach auch die Anständigen korrumpiert, die nicht sterben wollen (die einzige "echte" Heldenfigur im Buch ist ein alter Mann, der einen aussichtlosen Kampf gegen eine Narco-Bande, die ihn von seinem Grund und Boden vertreiben will, ausficht und folgerichtig nach einem kurzen Kapitel tot am Boden liegt).
Großartig finde ich, wie Winslow dabei das "Große Ganze", die globale wirtschaftlich-politische Lage, mit dem "kleinen Alltag" verbindet. Sowas schaffen in meinen Augen ansonsten eigentlich nur gute TV-Serien wie z.B. "Homeland". Das, was man sonst nur als Horrormeldungen im TV mitkriegt, wenn in Mexiko mal mehr als nur ein Dutzend unschuldiger Bürger auf einen Schlag grausam ermordet werden, bekommt in diesem Roman ein individuelles Gesicht, z.B. wenn das Leben einer warmherzigen Boheme rund um die Reporter einer Tageszeitung ausführlich erzählt wird: wie man tagtäglich sich freundschaftlich über politische Themen streitet, wie man sich zu Lesungen und Konzerten trifft, wie da das erotische "Bäumchen wechsel dich"-Spiel betrieben wird, wie man gemeinsam kocht und die Nächte bei billigem Rotwein durch-philosophiert... Dutzende Figuren wachsen einem da als Leser an's Herz - und umso bedrückender ist es dann, wenn diese sicherlich nicht perfekte, aber eben doch menschlich-liebenswerte Boheme-Szene vom Schatten des Drogenkriegs überwältigt und kaputt gemacht wird. Die einen verlieren ihre Ideale, die anderen ihren Stolz, ihre Verwandten und Freunde, ihre Gesundheit und schließlich - gern auf ausgesucht grausame Weise - ihr Leben.
Die Bösen siegen hier nicht - denn der allgegenwärtige Terror wird aus der begründeten Angst der Terroristen, selbst zum Opfer zu werden, gespeist. Das us-amerikanische Konzept des Drohnenkriegs mit den gezielten Tötungen, im Kampf gegen Osama Bin Laden "erprobt", setzt seinen Siegeszug auch im Dorgenkrieg fort nach dem Motto: "Wenn wir nur genügend Drogenbosse killen, hat irgendwann keiner mehr Lust, Drogenboss zu werden."
Aber die Guten siegen eben auch nicht. Weil es in der Welt des Bösen keine Guten mehr gibt und sich selbstverständlich immer einer findet, der Drogenboss werden möchte.
Am Ende ließ mich das Buch tief bewegt, aber ratlos zurück. Bisher hatte ich zumindest die Hoffnung gehegt, irgendwann könne es ein Einsehen geben und man die Kriminalisierung der Drogen aufheben und so dem Feuer dieses Krieges die Nahrung entziehen.
Nach der Lektüre von "Das Kartell" glaube ich nicht mehr daran. Zuviele Reiche und Mächtige hätten durch die Legalisierung von Drogen zuviel zu verlieren. Fünfzig Milliarden Dollars jährlicher Reingewinn aus dem Drogenhandel allein für die europäische Ndrangehta - dazu der Reibach, den Waffenproduzenten, Gefängnisbetreiber und andere Profiteure "des war on drugs" machen (Winslow führt das detailliert aus) - das ist ein Krebsgeschwür in unseren Gesellschaften, das längst bis in die letzten Winkel metastasiert hat.
Ein Roman also, der traurig und ratlos macht. Aber - sonst würde ich den hier nicht empfehlen - auch ein Roman, der kraftvoll und mitunter herrlich ausufernd geschrieben ist, der so spannend wie informativ ist und dessen Figuren stimmig und - man möge mir den Ausdruck verzeihen - authentisch konzipiert sind.
Ach ja, ein gewisser Jesus spielt auch mit in diesem Buch, und zwar im wörtlichen Sinne: er kickt im letzten Kapitel Fußball im guatemaltekischen Dschungel. Aber keine Bange: das war jetzt kein wirklicher Spoiler...