Kraven
Sich langsam ausbreitend rann das Blut über den Boden, die Fugen der Bretter füllend, die feine Maserung auslöschend.
Langsam durchdrang es den Raum, bis es sich in einer einzelnen Spalte, die nicht ganz sauber eingepasst war, sammelte. Sich verdichtete. Und schließĺich, große, schwere Tropfen formend, nach unten fiel, auf ein kleines Bündel Mensch, das sich dort zusammengekauert hatte.
Alissa konnte sich nicht rühren. Sie versuchte es, konzentrierte ihren ganzen Willen darauf, sich zu regen, doch alle Kraft, alle Stärke war aus ihrem Körper gewichen, seit dem Moment, in dem die Schreie begonnen hatten, die Schreie ihrer Mutter, ihrer Schwestern, ihres kleinen Brüderchens.
Sie hatte hier unten gelegen, zwischen den schweren Tongefäßen, in denen sie die Kartoffeln lagerten, und hatte alles mitangehört, das Poltern von schweren Stiefeln, das Rufen und das Flehen, und das Geräusch von Stahl auf Fleisch, mit dem es erlosch.
Außer bei ihrer großen Schwester. Bei ihr hatte es länger gedauert.
Die Männer hatten ihr weh getan.
Die Stille, die jetzt herrschte, war vollkommen. Alissa wollte sie durchbrechen, irgendwie, auf irgendeine Art, wollte irgendetwas tun, um das Leben wieder an diesen Ort zu bringen.
Alissa wollte schreien.
Sie wollte schreien und um sich schlagen, die Tontöpfe in tausend Scherben zerschlagen und das Klirren hören, mit denen sie zerbrachen, wollte heulen und toben.
Sie konnte es nicht. Sie wusste, irgendwann würde sie es können, bald schon. Tief in ihr baute er sich auf, der Schrei, und sie konnte spüren, wie er bald aus ihr heraus brechen würde.
Bald würde sie schreien können.
Bald.
Doch gerade, als sie glaubte, loslassen zu können, mit dem Schrei die Stille zu vertreiben, ihren Kopf auszufüllen und die Bilder in ihrem Kopf fortzunehmen, hörte sie das Getrappel von beschlagenen Pferden.
Ihre Hände huschten zu ihrem Mund und verschlossen ihn, hielten den Schrei drinnen.
Kein Laut. Bleib still, denn vielleicht ist es Hilfe, aber vielleicht sind die Männer auch zurückgekommen.
Alissa hatte in den letzten Wochen gelernt, dass Menschen wie sie und ihre Familie nicht viel Hilfe zu erwarten hatten.
Die Pferde näherten sich langsam, blieben stehen. Undeutliche Stimmen drangen zu ihr in ihr Versteck.
„... ein echter Trend“, hörte sie eine Stimme sagen. „Wer seine Steuern nicht rechtzeitig bezahlt, wird von den Räubern überfallen. Zufälle gibt es, nicht wahr?“
Der Besitzer der Stimme lachte meckernd.
Eine zweite Stimme antwortete ihm, so leise, dass Alissa sie nicht verstand. Die Antwort jedoch war wieder laut und deutlich zu vernehmen.
„Naja, ist ja auch eine sinnvolle Investition. Billiger, als eine Streitmacht gegen diese verdammten Paladine aufzustellen, die einem Mann erzählen wollen, wie er mit seinen Untertanen zu verfahren hat.“
Alissa hörte diese Worte, doch weder ihr Körper noch ihr Geist fanden einen Weg, auf sie zu reagieren. Sie hörte diese Laute, sie erkannte ihre Bedeutung, doch nichts – nicht Trauer, nicht Wut, nicht einmal Angst – rührte sich in ihrem Herzen. Selbst der Schrei gab seinen Versuch auf, sich aus ihrem Hals herauszukämpfen. Alissa war einfach da, reglos und apathisch.
Dann hörte sie hölzerne Stiefelabsätze über den Boden schreiten, und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Langsam, ohne jede Hast, kamen die Schritte näher, ihr Rhythmus nicht immer gleichmäßig, und Alissa begriff, dass der Fremde unterschiedlich große Schritte machte.
Er versuchte, nicht in die Blutlachen zu treten.
Der Gedanke brachte sie zum Zittern, und sie biss sich auf die Fäuste, um nicht zu schluchzen, oder zu lachen, oder zu schreien; sie konnte spüren, wie der Schrei wieder in ihr anschwoll.
Alissa lag ihm Dunkeln, den Geruch von Blut und kalter Erde in der Nase, und hörte den Schritten zu, die sich ihr näherten.
Sie erreichten.
Und stehenblieben.
Bitte, dachte sie, bitte geh weg, bitte geh weg, bitteohbitteohbitte-
Als die Luke mit einem Ruck aufgerissen wurde und Alissa spürte, dass sie sterben würde, blendete sie das Licht. Es stach sie in die Augen, füllte ihren Kopf mit Schmerzen und ließ die Gestalt nur als schwarzen Schatten erscheinen, die auf sie herab sah.
„Was ist los?“ Es war die Stimme des Mannes mit dem meckernden Lachen, weit weg, aus einer anderen Welt. Alles, was für Alissa noch existierte, war der schwarze Umriss, der auf sie herabstarrte, regungslos, mitleidslos.
„Habt Ihr etwas gefunden?“
Die Gestalt bewegte sich immer noch nicht, behielt ihren Blick weiter auf sie gerichtet, und sagte: „Nein. Hier ist niemand.“
Als die Luke sich schloss und sie erneut in Dunkelheit tauchte, als sie hörte, wie die Schritte sich entfernten, hörte sie die Gestalt noch etwas sagen.
„Wir sollten den Süden des Gehöfs absuchen, ob vielleicht jemand entkommen ist.“
„Warum nicht den Norden?“, fragte die andere Person.
„Weil im Norden die Wälder sind. Viele Möglichkeiten, sich zu verstecken, und reichlich Nahrung um diese Jahreszeit. Wer auch immer dorthin fliehen würde, wir hätten keine Chance, ihn zu finden.“
Und als die Geräusche der Pferde leiser wurden, wusste Alissa, dass sie leben würde. Und tief, tief in ihrem Herzen, unbemerkt noch von ihren Gedanken, keimte eine Ahnung auf, wofür sie leben würde.
Mit einer bewussten Anstrengung begrub Alissa den Schrei endgültig in sich.
Zehn Jahre später fuhr eine schwarze Kutsche durch die Nacht, über eine der weniger wichtigen Straßen Amns. Die Wichtigkeit einer Straße ließ sich an der Anzahl der Schlaglöcher festmachen, die sie säumten, und mit jedem Mal, dass die Kutsche bockte und ihn unsanft aus seinen Gedanken riss, verschlechterte sich Aramands Laune spürbar.
Zwar hatte sein Auftraggeber ihm eine außerordentlich großzügige Entlohnung versprochen, doch das änderte nichts daran, dass Aramand angesichts dieser Stillosigkeit sich schon fast wieder nach seiner regulären, adligen Kundschaft sehnte.
Natürlich schützte einen eine adlige Abstammung nicht davor, moralisch zum größten nur vorstellbaren Abschaum zu gehören, ganz im Gegenteil. Jeder Bauer konnte seine Frau verprügeln, aber sich einen eigenen Folterkeller einzurichten und alle drei Monate neu zu heiraten – nun, dafür bedurfte es einfach eines gewissen Maßes an Dekadenz.
Ein Adelstitel machte niemanden zu einem besseren Menschen. Er hatte Diebe und Mörder kennengelernt, Kinderschänder und professionelle Sadisten, und all das hatte wohl mit der Zeit dazu geführt, ihn nicht mehr jeden Auftrag annehmen zu lassen.
Dennoch: Von all diesen Monstern war keines so tief gesunken, ihn in eine gewöhnliche Taverne am Ende der Welt vorzuladen wie einen ordinären Abenteurer, den man auf Schatzsuche schickte.
Letzten Endes war wohl genau dies das Problem der Händler und Zunftmeister. Mochten ihre Verfehlungen auch die grausame Bestialität des Adels missen lassen, so fehlte es ihnen wie zum Ausgleich einfach an jeglichem Stil.
Der frühere Soldat des Herzogs war nun seit drei Jahren in Pension. Er war ein Trinker, er ging zu den Huren, obwohl er verheiratet war, und die Menschen im Dorf erzählten hinter vorgehaltener Hand von den Blicken, die er seiner heranreifenden Tochter zuwarf.
Es war leicht gewesen, ihn zu finden. Und als er betrunken aus der Taverne nach Hause torkelte, als sie ihn in einer dunklen Seitengasse abfing und ihr Schwert zog, spürte Alissa kein Zögern. Sie dachte an ihre tote Familie, an ihren Vater, ihrer Mutter, ihre Geschwister. An die Schreie ihrer Schwester.
Und lange erst, nachdem er tot war, nachdem sie sein Blut von der Klinge gewischt hatte und in die Schatten verschwunden war, nachdem sie die aufgeregten Rufe der Dörfler leiser werden hörte, begann sie zu zittern. Der erlöschende Blick des Mannes fiel ihr wieder ein und wollte sie nicht loslassen, verfolgte sie, erinnerte sie an das Leben, das sie genommen.
Doch trotz des Zitterns, trotz ihrer Tränen und dem bitteren Geschmack in ihrem Mund, als sie sich vor Ekel erbrach, wusste sie, dass sie diesen Weg weiter gehen würde.
Dass es das war, was sie ihrer Familie schuldete.
Und tief in ihr gab es etwas, das diese Entscheidung begrüßte.
Etwas, das früher mal ein Schrei gewesen war.
Als die Kutsche nach einer langen und sehr unbequemen fahrt endlich ihr Ziel erreicht hatte, war Aramands Laune endgültig kurz davor zu kippen.
Er öffnete die Kutschentür, ein Schwall eiskalter Regen schlug ihm ins Gesicht, und der Tiefpunkt war erreicht.
In den zwei Sekunden, die der Kutscher brauchte, um ihn zu erreichen und den Schirm über ihn zu halten, waren große Teile von ihm bereits durchnässt.
Aramand verspürte den starken Drang, den Kutscher ob seiner Unfähigkeit anzuschreien, rechtzeitig bei ihm zu sein. Statt dessen nahm er ihm den Schirm ab, betrachtete zufrieden die immer nasser werdende Gestalt vor sich, und gab ihm Anweisungen, die Pferde unterzustellen, sie abzureiben, sicherzustellen, dass sie genug frischen Hafer und warmes Heu hatten.
Das war seine persönliche Verantwortung. Aramand machte deutlich, dass er es nicht dulden würde, wenn er diese Verantwortung einem Stallburschen übertragen würde.
Er besah sich den vor Kälte zitternden Mann noch eine Weile, der mit klammen Händen versuchte, das Zaumzeug der Pferde zu lösen, bis die Stimme in seinem Inneren zu laut wurde, um sie noch ignorieren zu können.
Er seufzte.
„Und wenn ihr damit fertig seid, kommt in den Schankraum und wärmt Euch auf.“
Verflucht nochmal. Er wurde langsam weich.
Er drehte sich um, ignorierte das dankbare Gestammel des Kutschers und öffnete die Tür, die in die Taverne führte.
Eine Wand aus reinem Schall presste sich gegen ihn, brach über ihm zsuammen und ließ ihn einen Schritt zurücktaumeln. Irgendwo auf der Bühne konnte er eine große, grüne Gestalt ausmachen, die auf eine erschreckend große Axt einschlug. Die Axt jaulte irrwitzigerweise ob dieser Behandlung, ein Klagen, dass ergänzt wurde durch das guturrale Geschrei des Halborks.
Aramands linkes Auge begann zu zucken.
Irgendjemand würde für diesen Mangel an Respekt ihm gegenüber bezahlen müssen.
Die Jahre waren nicht freundlich zu dem Mann gewesen, der einst mit meckernder Stimme über das Schicksal ihrer Familie gelacht hatte. Ein Schlaganfall hatte ihn geblendet, und er lebte allein in einer ärmlichen Behausung in den Slums der Stadt.
In den ersten Sekunden hatte Alissa Mitleid verspürt, als der alte Mann ihre Anwesenheit bemerkte, hilflos den Kopf hin und her warf und immer wieder mit zitternder Stimme fragte, wer dort sei.
Doch dann kam ihre Erinnerung zurück, an das kleine Mädchen, dass sie einst gewesen war, an ihre eigene Angst, an das Unverständnis gegenüber den Schrecken, der über sie und ihre Familie hereingebrochen war, und ihr Mitleid erlosch.
Dieser Mann hatte kein Mitleid mit ihr gehabt. Er hatte gelacht. Hatte sie verspottet.
Sie schlug zu, und der erste Schlag reichte nicht aus, den Mann zu töten. Auch nicht der zweite, oder der dritte.
Und während aus verständnislosem Stammeln erst Flehen und dann unartikuliertes Schreien wurde, sagte sie kein einziges Wort.
Als der Jubel langsam abgeklungen war und er es sich an der Theke bequem gemacht hatte, stellte
Iliela ihm einen Krug Schwarzbier vor die Nase und gab ihm ein paar Kupferstücke als Wechselgeld zurück.
„Ich würde sagen, die Wette hast du verloren.“
Tork grinste breit und nahm einen Schluck. „Ich versteh nicht genau, was du meinst.“
Sie nahm einen nassen Lappen, machte aus einer kleinen Bierpfütze auf dem Tresen eine große und fixierte einen Punkt hinter ihm.
„Du hast mit ihm gewettet, dass deine vorgebrachte Ballade eher im Stande ist, ihr Herz zu erobern als seine.“
„Oh.“ Mit einer gelangweilten Miene fischte Tork eine Fliege aus seinem Krug und schnippte sie weg. „Tja... und seine Ballade war ziemlich gut, hm?“
„Machst du Witze? Ihr Götter, wie der mit Worten umgehen kann. Diese Gleichstellung mit einer Wildblume am Rande eines regenbogenfarbenen Wasserfalles...“
„Ja, die war gut. Auch die Technik. Für die Melodie nimmt man eigentlich zwei Gitarren, das war'n ein paar ziemlich gute Griffwechsel.“
„Genau das sag ich doch, der war fantastisch.“
„Hm.“ Tork prüfte mit den Fingernägeln seine Bartstoppel. „Und du meinst, ich hab jetzt wirklich keine Chance?“
„Du hast sie mit einer läufigen Hündin verglichen, der du einen Knochen zum dran kauen geben möchtest.“
„Naja, das war eigentlich eine ziemlich süße Metapher für...“
„Ich weiß, wofür das eine Metapher war, und es war verdammt nochmal nicht süß.“
„Aber den Leuten hat's gefallen.“
„Ja, und darum hat die ganze Meute auf sie mit dem Finger gezeigt und immer wieder deinen Refrain mitgegröhlt.“
Tork zuckte mit den Achseln. „Naja... okay. Das hab ich dann wohl versaut. Jetzt schuld ich dem Kerl ein Bier.“
Er grinste.
„Aber da sind ja auch noch die Jungs da hinten, mit denen ich um einen ganzen Berg an Goldstücken gewettet habe, dass seine Ballade nicht ausreichen würde, sie ins Bett zu kriegen.“
Trotzig erhobenen Hauptes stolzierte eine junge Frau hinter ihm auf den Ausgang zu, dicht gefolgt von einem Elfen mit hervorstechend hübschen Gesichtszügen.
„Aber Schönheit, oh zarte Verheißung, du Stern, der in der einsamen Nacht der sich nach Liebe verzehrenden Seele scheinen mag, bedenke doch...“
„Lass die Finger von mir! Ihr Männer seid doch alle gleich!“
Mit einem Knall schlug sie die Tavernentür hinter sich zu und verschwand in der Dunkelheit. Der Elf schenkte Tork einen hassenden Blick, dann folgte er ihr.
Tork nippte erneut an seinem Bier. „Und ich fürchte ja, die Wette hab ich gewonnen.“
Iliela blinzelte.
„Tork?“
„Hm?“
„Du bist eine schreckliche Person.“
Er zuckte mit den Achseln. „Ich hab dir doch mal diese Geschichte erzählt, wie ich meine Seele verkauft hab, um besser Gitarre spielen zu können.“
„Hast du. Mehrfach.“
Er zwinkerte ihr zu. „Wenn du dich mit dem Teufel einlässt, verändert sich nicht der Teufel.“
Der frühere Kommandant der Soldaten war in Ehren gealtert. Er hatte sich von seiner Pension ein hübsches Haus auf einem Hügel der Stadt gekauft, wo er mit seiner Familie lebte. Es hieß, er sei ein treusorgender Familienvater. Ein liebender Ehemann.
Und er war es, der den Angriff auf ihre Familie befohlen hatte.
Wie ihr einer seine Untergebenen nicht ganz freiwillig verraten hatte, war er außerdem das, was man in Soldatenkreisen einen „Harten Hund“ nannte.
Er machte diesem Ruf alle Ehre.
Sie hatte ihn geschlagen. Sie hatte ihn geschnitten. Und er hatte sich nach wie vor geweigert, den Namen des Mannes auszuspucken, der damals geholfen hatte, all die Morde zu verschleiern. Er blieb ruhig, und strahlte trotz all der Misshandlungen immer noch eine unerschütterliche Würde aus.
Dann hatte sie seine Tochter in den Raum geführt.
Es hatte das Mädchen zwei Finger gekostet, bis der alte Mann einen Namen genannt, und weitere vier, bis sie ihm geglaubt hatte.
Sie hatte trotzdem weitergemacht. Bei ihr, und etwas später bei seiner Frau.
Am Schluss war von der Würde nichts mehr übrig geblieben.
Geduldig trommelte der Regen gegen die Scheiben, einen konstanten Schleier bildend, der es unmöglich machte, weiter zu sehen als ein paar Meter.
Nicht, dass das eine besonders traurige Sache gewesen wäre. In diesem kleinen Dorf gab es vermutlich sowieso nicht viel mehr zu sehen als den großen Misthaufen, auf dem der Hahn jeden Morgen den Beginn eines weiteren, ereignislosen und dabei doch unendlich klischeebeladenen Tages ankündigte.
Aramand seufzte und trank einen weiteren Schluck von dem Wein, den ihm die Kellnerin gebracht hat, ein hübsches Ding mit Sommersprossen, von denen er unter anderen Umständen nur allzu gerne herausgefunden hätte, welche Körperstellen sie noch bedeckten.
Aber nicht heute, nicht jetzt. Der Wein war einer von zwei Sorten in der Auswahl gewesen (die zweite war „weiß“), und was der Ork dort mit seiner Gitarre angestellt hatte, wäre selbst dann noch ein Musterbeispiel für Niveaulosigkeit gewesen, wenn Aramand den Text nicht verstanden hätte, der sich hinter dem Gegrunze verborgen hatte.
Zwei Tische weiter von ihm feierte ein junger Mann die Geburt seines ersten Sohnes, als wäre er der erste Mann, der es geschafft hätte, sein unwürdiges Erbgut weiter zu geben, und die ewigen Hochrufe und Gratulationen zehrten an seinen Nerven.
Er seufzte erneut, lauter diesmal.
Er könnte jetzt in einem Schloss sitzen, um dort fürstlich zu dinieren. Der Wein würde aus dem besten Anbaugebiet kommen, das das Land aufzuweisen hatte, und serviert von Kammerzofen, die er nicht einmal hätte ansprechen müssen, damit sie des nachts sein mit Seide bezogenes Himmelbett wärmten. Ein einziger Kommentar in Richtung des Hausherren hätte gereicht.
Und alles, was er dafür tun müsste, wäre, ein weiteres schmutziges Geheimnis zu bewahren.
Einen weiteren Mord.
Eine weitere Vergewaltigung.
Während er an seinem sauer schmeckenden Wein nippte und darauf wartete, dass sein Auftraggeber sich endlich die Mühe machen würde, aufzutauchen, dachte er an all die Erlebnisse, die zu diesem Augenblick geführt hatten. An all die höhnisch grinsenden Gesichter, die ihm Dank aussprachen, und an all das Grauen, das auf die Gesichter der Toten gebannt war, die er unauffällig zu verscharren beigetragen hatte.
Und an ein kleines Mädchen in einem Kellerloch, dass ihn aus mit Tränen gefüllten Augen ängstlich anstarrte.
Er schnaubte. Zumindest konnte er sich wohl nicht vorwerfen, überstürzt gehandelt zu haben. Er hatte sich viel Zeit genommen, um zu dem Schluss zu kommen, der ihn nun in diese Taverne geführt hatte, auf diese erste Stufe seines Abstiegs.
Und doch auch in die einzige Richtung, die es ihm ermöglichte, morgens noch in den Spiegel schauen zu können.
Vielleicht war es nicht der angenehme Weg, den er hier einschlug. Aber, und der Gedanke trug einen schwachen Trost in sich, vielleicht war es endlich der Richtige. Vielleicht hatte er damals, als er das kleine Mädchen gerettet hatte, endlich und vielleicht zum ersten mal ins einem Leben etwas wirklich richtig gemacht.
Mit ausdruckslosem Gesicht betrachtete Alissa die beiden Toten, die vor ihr im Schlamm lagen, eine junge Frau und ein Elf, der ihr gefolgt war. Das Blut wurde schneller vom Regen weggewaschen, als dass sich eine Lache hätte bilden können, nur eine schmale, rosa gefärbte Spur zog sich über den Boden, die sich langsam verlief.
Als sie ihren Weg zu der Taverne fortsetzte, ging sie nicht sofort durch die Tür, sondern verharrte vor ihr, beugte sich vor und brachte leise zwei Keile in dem Türspalt an, so dass sie sich nicht ohne weiteres von innen öffnen lassen würde. Dann umrundete sie das Gebäude, in Richtung der Stallungen.
Sie fand zwei Männer dort, einen alten und einen jungen, die sich unterhielten.
Ein geworfenes Messer, einen gezielten Schwertschlag später, und sie war wieder allein.
Als Alissa die entzündete Laterne von ihrem Haken nahm und sie betrachtete, musste sie wieder an das blendende Licht denken, dass sie damals eingehüllt hatte, als der Fremde sie gerettet hatte. Ob er wohl geahnt hatte, wie ihr Weg geendet war?
Vielleicht.
Vielleicht hatte er gewusst, dass der einzige Weg, für Gerechtigkeit zu Sorgen, darin bestand, sie am Leben zu lassen, auf dass sie ihre Rache nehmen konnte.
Ja. Alissa lächelte. Bestimmt war es so.
Und als sie die Laterne auf das Heu warf und sah, wie sich die Flammen ausbreiteten, dankte sie ihrem Retter, bevor sie nach draußen ging.
Die Menschen in der Taverne würden das Feuer bemerken und versuchen, zu fliehen. Die verkeilte Tür würde sie nicht alle aufhalten, aber sie würde die Panik weiter schüren, und die Flucht verlangsamen.
Und Alissa würde sie alle töten. Jeden einzelnen, und zuletzt, ganz am Schluss, den Mann, den man Aramand nannte. Er sollte lernen, was es hieß, machtlos zusehen zu müssen, wie jeder in der eigenen Reichweite starb, ohne dass man etwas dagegen tun konnte.
Oh ja. Alissas Lächeln wuchs in die Breite.
Sie würde für Gerechtigkeit sorgen, und dem Leben, dass ihr Retter ihr geschenkt hatte, Sinn verleihen.