Mantis
Zärtlich glitten seine starken Hände über ihren Körper, drückten sie sanft zu Boden während seine Lippen die ihren suchten. Wie in jeder Nacht hatte sie die Augen fest geschlossen – so lange sie die Augen geschlossen hielt, konnte sie nicht sehen, wer er war, musste sie sein Gesicht nicht sehen, nicht akzeptieren, dass er es war. Der Rest ihres Körpers war seltsam willenlos: weder erwiderte sie seine Zärtlichkeiten, noch setzte sie sich dagegen zur Wehr. Nur ihre Augen waren unter ihrer Kontrolle – noch. Und so lange sie die Augen geschlossen hielt, musste sie nicht sehen, wer er war. So lange sie die Augen geschlossen hielt, konnte ihr nichts geschehen. So lange sie sich hinter ihren Augenlidern verstecken konnte, war sie sicher.
Doch sie schaffte es nie, die Augen die ganze Zeit über geschlossen zu halten. Früher oder später musste sie hinsehen, nicht, weil sie es wollte, sondern weil ihr eigener Körper zu ihrem Feind geworden war, sich gegen sie stellte.
Sie sah sein Gesicht vor sich, so dicht vor dem ihren dass sie seine Wimpern hätte zählen können, wenn sie denn genug Selbstbeherrschung gehabt hätte um ihren Blick zu fokussieren. Sie wollte schreien, doch wie in jener Nacht kam kein Laut über ihre Lippen. Sie wollte sich wehren, doch ihre Arme gehorchten ihr nicht. Sie wollte aufspringen und wegrennen, doch ihre Beine waren wie gelähmt. Und jetzt, da sie die Augen geöffnet hatte, konnte sie wieder diesen Ausdruck in seinem Gesicht sehen, der ihr noch viel mehr Angst machte als ihre eigene Bewegungslosigkeit. Und wie zuvor veränderte er sich. Was als Zärtlichkeit begonnen hatte, wurde zu sanfter Gewalt, dann zu purer Brutalität. Sie spürte keinen Schmerz, sie hatte auch in jener Nacht keinen Schmerz gefühlt, sondern nur das unerträgliche Gefühl der Erniedrigung, der Hilflosigkeit, der Wut. Und die Angst. Sie konnte nicht rennen, sie konnte nicht entkommen.
Sie wusste, was als Nächstes kommen musste, doch sie konnte nicht wegsehen, sie konnte die Augen nicht mehr schließen. Dafür war es nun zu spät. Wieder war sie gefangen, ein Zuschauer hinter den eigenen Augen.
Mit einem Mal war das Schwert wieder in ihren Händen, und ihre Arme – auf wundersame Art und Weise befreit – vollführten wie von selbst die Bewegungen, die sie erlösen würden, zumindest von dieser körperlichen Qual.
Und dann war es sein Körper der unter ihr lag, ihr ausgeliefert, abhängig von ihrer Gnade.
Es gab keine Gnade.
So viel hatte sie auf ihrer kurzen Reise gelernt.
Das Bild veränderte sich; zu ihren Füssen lag nun nicht nur er, sondern auch all die anderen. Jene, die mit ihr gereist waren, jene, die sie im Gasthof getroffen hatte, schließlich auch ihre Eltern, ihre Geschwister, ihre Freunde. Auf leblose, zerstückelte Körper reduziert. Und sie stand nur da, die Klinge in ihren Händen, hellrotes Blut auf silbrigem Metall. Und ihre eigene Stimme in ihrem Kopf: Es ist meine Schuld. Meine Verantwortung. Ich bin schuld. Schuld. Schuld.
Hlinka erwachte in nahezu vollkommener Dunkelheit.
Schuld.
Sie kniff die Augen zusammen, öffnete sie wieder. Die Dunkelheit blieb dieselbe.
Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich daran erinnerte, dass sie sich in Sicherheit befand, in einem abgeschiedenen Gasthaus in dem sie vor einigen Wochen nicht nur Unterkunft, sondern auch Arbeit gefunden hatte.
Ihr Atem war das einzige Geräusch neben dem Heulen des Windes in den Dachgiebeln. Hlinka fröstelte. In der Nacht musste sie heftig um sich geschlagen und sich von den wärmenden Decken befreit haben. Sie zog die Decken wieder über sich, in der Hoffnung vielleicht doch noch etwas Schlaf zu finden bevor der Morgen graute. Die Arbeit im Gasthaus war alles andere als leicht, und Hlinka hatte es sich zur Gewohnheit gemacht weit über ihre körperlichen Grenzen zu gehen.
Wer von den Anstrengungen des Tages erschöpft genug ist, dachte sie, fällt am Abend ins Bett und schläft tief und traumlos bis zum nächsten Morgen. Ha!
Es war nicht so, als hätte sie es nicht versucht, und in Herbergen wie dieser gab es immer etwas zu tun.
All die Anstrengung hatte jedoch nicht den gewünschten Effekt, ganz und gar nicht: Abends lag sie immer noch lange wach, mit Furcht vor den Szenen die sie erwarteten sobald sie die Augen schloss. Nachts wachte sie auf, einen Schrei auf den Lippen den sie gerade noch zurückhalten konnte. Und tagsüber passierte es ihr immer häufiger, dass sie in der Schenke einschlief, sobald sie sich hinsetzte oder auch nur gegen die Wand lehnte. Thom, der Wirt, hatte bisher noch nichts dazu gesagt, aber sie sah sehr wohl wie er sie musterte, mit zusammengezogenen Augenbrauen und längst nicht mehr so freundlich wie zu Beginn ihres Dienstes. Sie hatte ihm nicht erzählt woher sie kam und was ihre Geschichte war, und er hatte nicht danach gefragt. Und wenn es nach ihr ging, dann würde das auch so bleiben.
Was für einen Sinn hat es, andere nah an sich ran zu lassen, ins Herz zu schließen? Früher oder später verschwinden oder sterben sie doch alle, und das einzige was mir von ihnen bleibt sind ihre Ebenbilder in meinen Träumen…
Hlinka sah ein, dass sie in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden würde. Seufzend erhob sie sich, zog sich an und ging hinunter in den Schankraum.
Sie hatte schon Feuer gemacht und war gerade dabei, den Eintopf vom Vortag aufzuwärmen, als einer der Gäste den Raum betrat. Es war Skeira Hati, die schweigsame Heilerin, die einige Tage nach ihr selbst im Gasthaus Zum Tiefental angekommen und mit offenen Armen empfangen worden war. Thoms Frau Catherine erwartete ihr drittes Kind, und besonders in solchen Zeiten waren Heilkundige gern gesehene Gäste.
Hlinka nickte der ganz in blau gekleideten Frau zu, wandte sich dann aber wieder ab und widmete sich dem Eintopf. Sie wollte der anderen keinen Grund geben, ein Gespräch mit ihr zu beginnen.
„Guten Morgen, Hlinka.“ Zu spät. Sie zwang sich zu einem Lächeln und drehte sich erneut um. „Hallo.“ „Ihr seht erschöpft aus… Habt Ihr nicht gut geschlafen?“
Die andere schien nicht zu merken, dass ihr Lächeln mehr auf Willenskraft denn auf Freundlichkeit beruhte; Skeiras Lächeln strahlte Wärme aus, vielleicht sogar eine Andeutung von Freundschaft. Vielleicht war das der Grund dafür, dass Hlinka für einen Moment ihre Deckung fallen ließ. „Nein, ich… ich schlafe nie besonders gut, in der letzten Zeit. Alpträume.“, fügte sie hinzu, als die Heilerin fragend eine Augenbraue hob. „Die von der Sorte, die jede Nacht aufs neue wiederkehren?“ Hlinka nickte stumm, fest entschlossen, keine Details zu verraten. Die andere sollte sie nicht für eine Mörderin halten.
Skeira schaute sie eine Weile nachdenklich an. Hlinka fühlte sich unbehaglich unter ihrem Blick, fast war ihr, als könne die andere Gedanken lesen. Konnte sie? Woher sollte sie es wissen, was wusste sie überhaupt von der anderen? Sie selbst war ja auch nicht die, die sie zu sein vorgab. Sie war kurz davor, den Blickkontakt abzubrechen, als Skeira endlich fortfuhr.
„Ich glaube, ich kann Euch helfen. Mit Träumen kenne ich mich nicht aus, aber von Schlaf verstehe ich einiges. Wenn Ihr das wünscht, kann ich Euch einen Trank zubereiten, der Euch hilft schneller einzuschlafen, tief und traumlos.“ Konnte die Lösung so einfach sein? „Das würdet Ihr für mich tun?“ Skeira nickte. „Natürlich. Es braucht etwas Vorbereitungszeit, aber heute Abend sollte ich so weit sein. Kommt einfach in mein Zimmer, dann können wir…“
Sie wurden unterbrochen als die Tür aufging und Thom den Schankraum betrat, von einem anderen Mann und einer Schneewehe begleitet. „Verfluchter Sturm!“, schimpfte er und schüttelte sich. Eis und Schnee fielen von seiner Kapuze, und die Temperatur fiel merklich bevor Thoms Begleiter die eisenbeschlagene Tür wieder schloss.
Hlinka seufzte innerlich, als die beiden quer durch den Raum zum Feuer stapften. Sie wusste schon, wer das später sauber wieder sauber machen musste. Aber sie hatte sich dieses Leben ausgesucht, sie würde sich nicht beklagen. Nicht hörbar.
Stattdessen lauschte sie, während sie ihren gewohnten Tätigkeiten nachging, dem Gespräch zwischen Thom und dem anderen Mann, die sich am Feuer niedergelassen hatten. So erfuhr sie, dass der Zugang zum Tal, in dem sich das Gasthaus befand, durch den Schneesturm unpassierbar geworden war. Steinschlag und umgestürzte Bäume hatten auch ihren Teil beigetragen, und wenn das Wetter sich hielt, dann würde es noch lange Zeit dauern bis aus den umliegenden Dörfern Unterstützung geschickt wurde. Bis dahin gab es keine Möglichkeit, das Tal zu verlassen: Sie waren auf sich gestellt.
Hlinka störte das nicht sonderlich: sie hatte ohnehin nicht vor, in nächster Zeit weiter zu ziehen. Ihr Zimmer war geräumig, Vorräte waren genügend vorhanden, und obwohl sie sich auf einer wie sie fand gesunden Distanz zu ihnen befand, so mochte sie die anderen Bewohner des Gasthauses doch recht gern.
Thom, dessen Herz ebenso großzügig angelegt war wie der Rest seines Körpers, seine gastfreundliche Frau Catherine und ihre zwei Söhne, Karl und Thommy, beide gerade alt genug um Hlinka bis zur Hüfte zu reichen.
Dann die beiden Stallburschen, Mark und Rick, der eine dunkel und schweigsam, der andere lebhaft und stets zum Scherzen aufgelegt.
Skeira Hati, die Heilerin, die die meiste Zeit auf Catherines Zimmer verbrachte und sich meist nur zu den Essenszeiten im Schankraum aufhielt.
Zukathh von Entapie, ein hochgewachsener älterer Herr mit dunkelblauem Mantel und Hut, der von sich behauptete ein mächtiger Magier zu sein, sich aber weigerte, sie eine Kostprobe seines Könnens sehen zu lassen.
Taskis Goldzunge, eine junge Bardin die mehr Zeit schlafend auf ihrem Zimmer als anderswo verbrachte seit sie vor zwei Tagen angekommen war.
Und natürlich der Mann, der zusammen mit Thom das Gasthaus betreten hatte, offenbar ein alter Bekannter. Seinen Namen kannte Hlinka noch nicht, also beschloss sie, den beiden Männern noch etwas länger zuzuhören. Vielleicht war auch ein bisschen Neugierde im Spiel, aber hauptsächlich, sagte sie sich, wollte sie einfach nur wissen, wer hier mit ihr unter einem Dach nächtigte. Und es wäre ja unhöflich, das angeregte Gespräch zu unterbrechen, oder etwa nicht?
„… hatte wohl nicht so viel Glück. Der arme Kerl war wohl schon eine Weile tot.“ Ein eiskalter Schauer ging über Hlinkas Rückgrat. Konnten sie ihn meinen? Wenn man ihn finden würde, würde man Fragen stellen, und dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis diese Fragen zu ihr führten… Unbewusst hielt sie sich am Rand des Tisches fest den sie gerade abwischte, wie um sich Halt zu geben.
„Johny sollte es besser wissen als nachts umherzuwandern. Sah ganz so aus, als hätten die Wölfe ihn erwischt.“ Erleichterung durchfuhr Hlinka, dicht gefolgt vom bekannten Gefühl der Schuld. Ein Mann war gestorben, und sie freute sich darüber? Was war nur los mit ihr?
Der Rest des Tages verlief ereignislos, so, wie es im Gasthaus Zum Tiefental üblich war.
Der Schlaftrank, den sie sich bei Skeira abgeholt hatte, machte sie tatsächlich schläfriger als die körperliche Arbeit es bisher geschafft hatte. Kaum lag sie auf dem Bett, war sie auch schon eingeschlafen.
Als sie erwachte, war die Sonne schon aufgegangen. Hlinka blinzelte ungläubig. War dies die Realität? Sie kniff sich in den Oberarm, nur um ganz sicher zu gehen. Ja, das war echter Schmerz.
Und noch etwas anderes war … anders als sonst. Es dauerte einen Moment, bis Hlinka erkannte was es war. Sie fühlte sich tatsächlich erholt. Wie lang war es her, dass sie durchgeschlafen hatte? Sie konnte sich nicht erinnern.
Beschwingten Schrittes ging sie hinunter in den Schankraum. Fast hätte sie ein fröhliches Lied gepfiffen. Aber nur fast. Ein Lächeln schaffte es dennoch auf ihr Gesicht, durch Augenringe und Sorgenfalten hindurch. Vielleicht kann doch noch alles gut werden.
Als sie den Schankraum betrat, gefror das Lächeln ihr auf den Lippen. Thom und der Unbekannte von gestern saßen zusammen mit dem Magier und den zwei Stallknechten im Kreis um einen Tisch und schienen in ein ernstes Gespräch vertieft, das sie in dem Augenblick unterbrachen in dem sie Hlinka bemerkten.
Irgend etwas stimmt hier nicht, dachte sie, doch die anderen nahmen das Gespräch schnell wieder auf, mit gedämpften Stimmen. Es schien um Politik zu gehen, irgend etwas von einer Kriegserklärung, die ein südlicher Staat gegen Baldurs Tor ausgesprochen hatte, oder auch nicht – darüber schienen sie sich nicht einig zu sein. Hlinka zuckte die Achseln und machte sich an die Arbeit. Männer…
Erst viel später fiel ihnen auf, dass tatsächlich etwas nicht stimmte: die junge Bardin tauchte zu keinem der Essen auf. Anders als ihr Langschläfertum war dies ganz und gar untypisch für sie, und schließlich ging Thom zu ihrem Zimmer um sie zu wecken, Verwünschungen über die faule Jugend von heute vor sich hin murmelnd.
Wenig später war er zurück. Der Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben; er war bleich wie ein Leichentuch, und Hlinka meinte zu sehen, wie seine Knie zitterten. Er bewegte die Lippen, flüsterte etwas. Erst als sie ihr Ohr neben seinen Mund brachte, konnte sie verstehen, was er sagte.
Auch sie fühlte, wie ihre Beine unter ihr nachgaben. Es verfolgt mich, dachte sie. Und erst dann gingen ihre Gedanken zu Taskis, die sie nie wieder würde singen hören.
Tot, ermordet, auf ihrem Zimmer, in dieser Herberge. Zerfleischt, wie von einem wilden Tier. Nur ein paar Türen von ihrem eigenen Bett entfernt. Das hätte ich sein können.
Eine Erklärung hatte niemand – wie hätte ein Wolf die Tür zum Gasthaus öffnen können?
Werwolf, flüsterten die anderen, und ihre Augen huschten hin und her, vom Fenster zur Tür, zurück zum Fenster, zur Treppe.
An diesem Abend saßen sie alle lange beisammen, selbst Catherine und ihre zwei Söhne waren zu ihnen gestoßen. Offenbar fand keiner von ihnen Gefallen an dem Gedanken, ins Bett zu gehen. Wenn ein Mörder einmal in die Herberge eindringen konnte, dann würde er es wieder tun können.
Doch am Ende siegte die Müdigkeit, und sie alle zogen sich in ihre Räume zurück, nicht ohne danach sorgfältig die Türen zu verbarrikadieren.
Hlinka hatte von Skeira genug von dem Schlaftrunk bekommen um eine ganze Woche durchschlafen zu können. Dennoch zögerte sie an diesem Abend, bevor sie die kleine Flasche entkorkte die für eine Nacht ausreichen würde. Wenn in dieser Nacht jemand in ihr Zimmer eindringen würde, würde sie es nicht einmal bemerken. Sie schauderte, sah sich erneut im Zimmer um, musterte jede Ecke. Nichts. Die Schatten waren so unbeweglich wie immer, die Silhouetten vor dem Fenster vertraut. Nichts, wovor ich mich fürchten müsste. Ich bin hier sicher. – Genauso sicher wie Taskis?
Doch wenn sie schon sterben müsste, war es dann nicht besser, wenigstens nichts davon mitzukriegen? Nein, nein – besser war es doch, sich zu wehren. Nicht wach bleiben, aber auch nicht zu tief schlafen. Dem Tod ins Auge zu blicken, wenn er kam um sie zu holen. Und ich habe den Dolch. Ich kann mich verteidigen. Ich bin vorbereitet. An diesen Gedanken klammerte sie sich, während sie das Flakon zur Hälfte leerte und sich aufs Bett fallen ließ.
In dieser Nacht war es schlimmer als je zuvor. Denn als sie, wie jedes Mal, die Augen nicht länger geschlossen halten konnte, sah sie nicht ihn wie sie ihn kannte. Er war zu einem Monster geworden, halb Mensch, halb Tier, dessen Krallen über ihren Körper fuhren, seine Fangzähne nur Millimeter von ihrem Gesicht entfernt. Und dann zerriss er sie, und nicht nur sie, sondern auch all die anderen. Mutter, Vater, Bruder. Die Vertriebenen. Und schließlich Taskis. Immer wieder.
Sie wartete auf das Schwert, sehnte es sich herbei um dem Morden ein Ende zu machen, doch es erschien nicht. Sie war und blieb hilflos.
Schweißgebadet erwachte sie. Dämmerlicht, die vertrauten Umrisse im Zimmer. Es war Morgen, sie hatte überlebt. Langsam versuchte sie sich zu entspannen. Lauschte auf ihren eigenen Atem, und das Heulen des Sturmes dort draußen. Bis sie genug Kraft gesammelt hatte, um diesem Tag ins Auge zu blicken. Bis sie es endlich über sich brachte aufzustehen.
Bis ein Schreckensschrei vom Schankraum zu ihr drang.
Es war wie ein Alptraum, nur dass sie wach war. Sie alle waren wach.
Abgesehen von Rick. Aber der würde wohl nie wieder aufwachen.
Der Schock saß bei ihnen allen tief, zu tief um noch viel zu reden. Sie hoben in der halbgefrorenen Erde ein Grab für Rick aus, direkt neben der letzten Ruhestätte von Taskis. Zu Lebzeiten hatten die beiden sich gut verstanden, warum sollten sie nun also im letzten Schlaf nicht beieinander sein? Abgesehen davon wollte keiner sich weiter von der Herberge entfernen als unbedingt notwendig war. Man wusste schließlich nicht, was dort draußen in den Schneewehen lauerte…
Wieder im Warmen saßen sie zusammen und diskutierten. Hlinka hatte so etwas noch nie erlebt: Männer die am Vortag noch miteinander das Brot gebrochen hatten, beschuldigten sich jetzt gegenseitig des Mordes.
Catherine schien kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen. Sie hörte nicht mehr auf zu zittern, sodass Skeira sie schließlich bei der Hand nahm und auf ihr Zimmer führte. Diese Art Gespräche, sagte sie streng, sei nicht geeignet für eine Hochschwangere.
Hlinka selbst blieb, brachte jedoch kein Wort heraus, beobachtete nur, wie sich der Zorn der Allgemeinheit in Blutdurst wandelte. Sie schreien nach Gerechtigkeit, doch was sie wollen, ist Vergeltung. Blut für Blut.
Mark befand sich im Fokus der Anschuldigungen. Er teilte seit jeher die Kammer mit Rick, nicht jedoch seinen Erfolg. Rick war beliebter, vor allem bei den Frauen. Es war kein Geheimnis im Gasthaus, dass Marks Gefühle für Taskis unerwidert geblieben waren, während sie dem schönen Rick schon öfter Zugang zu ihrer Kammer gewährt hatte. Da lag der Gedanke doch nahe, dass Mark sich gerächt hatte?
Als er merkte, dass seine eigenen Argumente auf taube Ohren fielen, wurde Mark wütend. Er stand auf, so schnell und heftig, dass der Stuhl hinter ihm zu Boden fiel. Er schrie und tobte – die Aufregung, und die langsam einsetzende Todesangst machten sein Geschrei unverständlich, fast nicht mehr menschlich. Als Zukathh ihn bei den Schultern packte um ihn zu beruhigen, schlug er zu. Das war mehr als genug Beweis für die anderen.
Zu keiner Bewegung fähig sah Hlinka zu, wie zwei der Männer Mark niederschlugen und festhielten, während Thom mit Hammer, Nägeln und einem Strick nach draußen ging. Kurz darauf kam er wieder und bedeutete den beiden anderen ihm zu folgen. Hlinka blieb drinnen am Feuer, trotzdem zitternd. Sie musste den anderen nicht folgen um zu wissen, was als nächstes geschehen würde. Was sie jedoch nicht aussperren konnte, war ihre eigene Vorstellungskraft. Fast war ihr, als hörte sie die Balken vom Stall unter dem plötzlichen und ungewohnten Gewicht knarzen und knacken, und vielleicht, vielleicht hatte das Knacken auch einen anderen Ursprung.
In dieser Nacht trank Hlinka zwei der kleinen Fläschchen aus. Tief und traumlos.
Morgen. Es musste Morgen sein, denn es war hell im Zimmer, und sie hatte die Augen geöffnet. Sie hob eine Hand vor ihr Gesicht um zu überprüfen ob sie noch da war. Das war sie. Die gleiche Prozedur folgte mit der anderen Hand. Auch anwesend. Das ist gut, dachte sie. Ihr fiel nicht sofort ein warum es wichtig war, beide Hände noch zu besitzen, aber bis es ihr wieder einfiel, würde sie einfach glücklich darüber sein.
Alles war anders als es gewesen war; nicht nur der Stoff wie sie ihn unter ihren Fingern und Handflächen fühlte, sondern auch das Licht im Zimmer. Auf eine andere Art hell. Präsenter. Greifbarer. Unwillkürlich streckte sie die Hand aus um einen Lichtstrahl einzufangen, aber sie war wohl zu langsam, das Licht entkam.
War auch nicht so wichtig. Anderes war wichtig. Runtergehen. Warum das wichtig war, wusste Hlinka gerade nicht, aber es würde ihr schon einfallen, wenn sie erst einmal da war.
Auch zu laufen war eine sonderbare Erfahrung; als liefe sie über weiches Moos, nicht über die harten Holzdielen. Eine verschlossene Tür, eine Möglichkeit. Eine weitere verschlossene Tür, noch eine Möglichkeit. Eine offene Tür, eine bereits getroffene Wahl. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick hinein; rot der Boden, rot die Wände. Eine kniende Gestalt, sie zuckte. Hlinka blieb stehen, drehte den Kopf, wie in Zeitlupe veränderte sich der Blickwinkel, langsamer als ihre Bewegung gewesen war.
Der Kniende war Thom, das sah sie nun. Er zuckte nicht, er weinte, schluchzte, unkontrolliert. Als sie die zwei Gestalten sah, die nun keine Gestalten mehr waren, wohl aber mal welche gewesen sein mussten, verstand sie auch, warum er schluchzte. Catherine. Oder, nein, ehemals Catherine.
Seltsam faszinierend war dieses Bild, fast schon eine Komposition. Thom drehte sich um, er hatte sie gehört. Hatte sie etwas gesagt? Sie konnte sich nicht erinnern, etwas gesagt zu haben. Ihr Gesicht fühlte sich an wie eine Maske, unbeweglich, wie aus Stein, unfähig den Ausdruck von Schrecken, Trauer und Zorn zu spiegeln den sie auf Thoms Gesicht sah.
Sie standen im Schankraum. Wie waren sie überhaupt hier herunter gekommen? Verwundert schaute Hlinka sich um, wieder ein Kreis diskutierender Gesichter, wieder dieser Zorn, der Blutdurst. Sie redeten, und Hlinka hörte was sie sagten, doch die Bedeutung blieb ihr verwehrt. Seltsam.
Über wen wollten sie dieses Mal richten? Niemand hier, der nicht die gleiche verzerrte Maske aus Wut, Angst und Mordlust im Gesicht trug. Bis sie bemerkte, dass alle Blicke auf ihr ruhten.
Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie die anderen sie sehen mussten. Die stille Küchenaushilfe, von der niemand weiß, woher sie kommt. Die Augen, in denen etwas lag, das dem Wahnsinn nicht so fern war wie es sein sollte, und die den Blickkontakt mit anderen Menschen wo möglich vermieden. Die für ihr Alter viel zu tiefen Sorgenfalten auf der Stirn, und die noch viel tieferen Augenringe. Fast so, als hätte sie in den letzten Wochen keinen Schlaf gefunden. Zum Beispiel, weil sie des Nachts umging und Menschen ermordete.
Thom stand vor ihr, Tränen der Wut oder der Trauer glitzerten in seinen Augen. Er starrte sie an, hasserfüllt, vielleicht erwartungsvoll. Jetzt, das wusste sie, war ihre letzte Chance um sich zu verteidigen. Auch wenn es vielleicht zwecklos war.
Doch es war, als wäre sie noch immer in einem ihrer Träume gefangen: Sie konnte zwar den Mund öffnen um zu sprechen, doch kein Laut kam über ihre Lippen.
Ihre Beine gehorchten ihr nicht mehr, überhaupt war es, als hätte sie nun keinen eigenen Willen mehr. Keine Kontrolle. Thom gab ihr einen Stoss in Richtung Tür, und widerstandslos fügte sie sich, setzte sich in Bewegung.
Nach der letzten Nacht hatte der Schneesturm sich gelegt, und die Sonne wagte sich endlich wieder hinter den Wolken hervor. Der eisverkrustete, schmelzende Schnee warf die Sonnenstrahlen zurück und blendete sie, als sie nach draußen trat, sodass sie die Hände schützend vor die Augen heben musste. Wie von einem inneren Zwang getrieben, drehte sie den Kopf zur Seite, Richtung Stall. In Richtung des improvisierten Galgens. Es schien, als hielte nicht nur die Nacht, sondern auch der helllichte Tag seine ganz eigenen Schrecken für sie bereit.
Als Thom sie auf das schnell zusammen gezimmerte Podest zwang, wanderte ihr Blick über die Anwesenden. Sie waren alle da: Thom selbst, die Züge von Hass und Schmerz verzerrt. Thoms zwei kleine Söhne, die Gesichter noch immer tränenüberströmt. Zukathh der Magier, das Antlitz undurchdringlich wie immer. Und Skeira, deren Blick erneut ihre Gedanken zu lesen schien. Hilf mir, dachte Hlinka. Wenn du mich hören kannst, dann hilf mir!
Sie spürte den rauen Strick um ihre Kehle streichen, auf ihre Schultern fallen. Eine Wahrnehmung, seltsam isoliert vom Rest ihres Körpers.
Mutter, soll es so enden?
Das Letzte, was Hlinka sah, war das Gesicht von Skeira Hati. War das nur Einbildung, oder zwinkerte die Heilerin ihr zu?