@Aslan: Jetzt wird’s interessant.
Wenn ich mir Deine Argumentation um das Hitlerbeispiel richtig verstehe, dann ist Deine Logik folgende: Wenn Werturteile nicht nach einem absoluten Wertesystem gefällt werden, also als relativ gesehen werden, dann wird ein soziales Zusammenleben unmöglich, denn dann könnte man sich zwischen Krieg und Frieden, Mord und Krankenpflege ebenso frei entscheiden wie zwischen chinesischem und italienischem Essen. Denn dann gäbe es kein allgemeinverbindliches Recht mehr.
Um also ein kollektiv verpflichtendes Unterscheidungskriterium zwischen richtig und falsch zu haben, brauchen wir Gott, brauchen wir die kategorische Unterscheidung zwischen gut und böse.
Nun, erstens argumentierst Du hier natürlich nach dem Grundsatz: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Wir wollen nicht, daß wir Hitler nach relativen Maßstäben beurteilen, daher muß es absolute Maßstäbe geben, nach welchen gemessen sein Tun verwerflich war. Das ist ein Utilitarismus, den ich als Zyniker unterstützen würde. Aber in diesem Thread markiere ich ja den Idealisten, und deswegen halte ich hier die Argumentation mal für fragwürdig.
Zweitens ist die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden, Folter und gerechter Untersuchung natürlich eine andere als zwischen chinesischem und italienischem Essen (sorry, aber der Vergleich stammt von Dir, hier machst Du mir’s leicht
). Denn es gibt neben der Unterscheidung nach absoluten auch die Unterscheidung nach quantitativen Kriterien.
Klar: Wenn ich zum Italiener essen gehe, dann schaden ich dem Chinesen, dem die Einnahmen durch mich durch die Lappen gehen, der deswegen seinem Sohn nicht den dringend benötigten Sticker für den Schulranzen finanzieren kann, der deswegen ins soziale Abseits gerät und später einmal ein führendes Haupt der Triaden wird...
Insofern lade ich also moralische Schuld auf mich durch meine unbedachte Restaurantwahl.
Grinst da jemand? Zu recht, denn mein Anteil an dieser tragischen Entwicklung ist dermaßen minimal, daß man ihn auch als irrelevant einschätzen darf. Mal ganz abgesehen davon, daß ich, wen ich beim Chinesen gegessen hätte, vielleicht die Kinder des italienischen Restaurantbesitzers der Camorra direkt in die Arme getrieben hätte.
Wenn ich nun allerdings als SS-Obersturmbannführer mich mit Verve für eine flotte Umsetzung der Wannseekonferenz-Ergebnisse eingesetzt hätte – dann wäre mein Anteil an der Vernichtung der Juden etwas weniger irrelevant gewesen, oder? Es kommt immer auf die Dosis an.
Darin liegt ja gerade das Problem, aber auch die spannende Herausforderung der ethischen Entscheidungsfreiheit: Daß man abwägt, was zu tun richtig und was falsch ist. Daß man über Konsequenzen nachdenkt, und, wie ein Schachspieler, sich auch über Konsequenzen in dritter, vierter und fünfter Ebene noch Gedanken macht. Daß man die Werte, nach welchen man urteilt, immer und immer wieder überprüft und im Falle neuer Erkenntnisse dem aktuellen Stand des eigenen Bewußtseins anpaßt.
Mir kommt es da im gesellschaftlichen Kontext auf den Aspekt der Verhandlung an. Gesellschaften müssen meiner Meinung nach immer und immer wieder darüber verhandeln, was sie für richtig und falsch halten, welches Handeln rechtens ist und welches unrecht. Da sind tragische Irrtümer nicht ausgeschlossen. Das kannst Du an unserer aktuellen politischen Lage ganz gut ersehen: Ist es richtig, jetzt den Irak anzugreifen oder ist es falsch?
Darüber wird ellenlang debattiert und dieses Debattieren ist die große Stärke des aufgeklärten, säkularen Staatswesens. Bush’s durch und durch religiös gedachte Einteilung der Welt in Gut und Böse wird eben nicht hingenommen, sondern es melden sich Leute zu Wort, die jener Relativität, für die ich hier in der Debatte stehe, ihre Stimme verleihen. Die sagen: Sicherlich ist Hussein ein gefährlicher Diktator, in dessen Händen Massenvernichtungswaffen nicht gut aufgehoben sind. Aber es gibt hier auch noch andere Faktoren zu berücksichtigen, wir müssen da abwägen zwischen den (durchaus berechtigten) wirtschaftlichen Interessen der westlichen Welt, denen der Irak-Anrainerstaaten, der Sicherheit amerikanischer, israelischer, arabischer und europäischer Menschen...
Kurz und gut: Würde man sich so leicht auf ein Hussein=böse einigen können, dann bräuchte es all diese Auseinandersetzungen nicht. Aber wir erinnern uns: Auch über Hitler war man sich schon vor 1939 im Ausland weitgehend einig. Und trotzdem gab es die appeasement-Politik. Weil eben rein moralische Gründe in der Politik nicht ausreichen. Weil es auch noch andere Interessen zu berücksichtigen galt. Im Nachhinein sehen wir das heute klarer, wie man später ja überhaupt immer klüger ist. Auch in fünfzig Jahren werden wir klüger sein, was die Richtigkeit eines Krieges gegen Hussein angeht.
Aber in der gegenwärtigen Situation hilft uns das Gut/Böse-Denken in dieser Sache nicht sehr viel weiter, es sei denn dabei, ohne gute Argumente die Leute emotional auf unsere Seite zu bringen. (Umgekehrt zu Bush gibt es ja auch Kriegsgegner, die Amerika als die böse Buhmann-Nation hinstellen, welche im Zweifel immer gegen die Interessen der armen Restbevölkerung des Globus handelt.)
Im Nachherein ist aber gerade die Qualifizierung Hitler=böse überhaupt nicht weiterführend. Denn damit mystifiziert man ein Phänomen, anstatt daraus für die Zukunft zu lernen. Spannender und gewinnbringender als die Frage, ein wie böser Sünder Hitler denn nun gewesen sei, und ob er noch kurz vor dem Selbstmord bereute oder nicht – eine Frage, die als relevant zu empfinden wohl wirklich nur Gläubigen einfallen kann – ist doch die, wie ein Mensch sich so entwickeln konnte, wie Hitler das tat. Können daraus eventuell Lehren gezogen werden, was beispielsweise das Erziehungswesen angeht, oder die Regeln der parlamentarischen Demokratie, der internationalen Diplomatie, des Rechtswesens? Sind für solche Fragen die Worte „gut“ und „böse“ nicht eher hinderlich?
Der von Dir beschriebene Atheismus, der sich in diesem Zusammenhand weigert, von gut und böse zu sprechen, ist da meiner Meinung nach weniger menschenverachtend als eine Religion, die behauptet: ist alles nicht so wild, man sündigt eh nicht an den Menschen, sondern nur an Gott, und wenn man dann rechtzeitig bereut, dann ist alles gut und vergeben.
(Klar: „Was ihr an dem geringsten eurer Brüder getan habt, das habt ihr an mir getan“ usw. – aber auch da geht es also nicht wirklich um die geringen Brüder, sondern um Jesus und Gott. So gesehen kann man aus christlicher Sicht überhaupt nicht in Bezug auf seine Mitmenschen moralisch handeln, sondern immer nur in Bezug auf Jesus und Gott – das ist doch wohl Menschenverachtung in letzter Konsequenz, oder?!)
Die Problematik der moralischen Freiheit, die Dir so sauer aufstößt, jenes haltlose Schweben im moralischen Raum, welches die Folge ist, wenn uns der metaphysisch-religiöse Sockel unter den Füßen weggestoßen wird – sie sind eine nicht behebbare Schwierigkeit. Wer auf festgelegte absolute Werte verzichtet, der hat es erstmal nicht angenehmer und komfortabler, der muß tüchtig flattern oder schwimmen, um sich oben zu halten. Wenn sich diese absolute Freiheit von jeglichen Werten zu einem eigenen ideologischen Absolutheitsanspruch verfestigt, geht die Kanone in der Tat nach hinten los: Dostojewskis Werke (z.B. „Schuld und Sühne“) drehen sich oft um genau diese schwierige Frage.
Besteht nicht – so der bange Tenor – die Gefahr, daß wir mit dem Aufgeben der religiösen Fundamentierung unserer Werte lediglich dem brutalen Recht des Stärkeren den Weg ebnen? Wenn es keine festen Werte mehr gibt – darf dann nicht jeder so handeln, wie es ihm gerade in den Kram paßt?
Die Antwort, die ich darauf geben möchte, ist: Ja. Jeder darf so handeln, wie es ihm gerade in den Kram paßt. Aber wenn er ein wenig clever ist, dann sollte er sich auch der Konsequenzen seines Handelns bewußt sein. Daß sich andere Leute halt nicht alles gefallen lassen. Daß es sich jemand, der permament gegen die durch langes Verhandeln festgelegten Normen einer Gesellschaft verstößt, reichlich schwer macht. Ja, es gibt diese prinzipielle moralische Freiheit. Man darf morden, rauben, vergewaltigen und brandschatzen. Aber man darf sich nicht wundern, wenn andere dagegen einschreiten werden, und das durchaus effektiv.
Oder nein: man darf sich sogar wundern. Und sich sogar noch – wie ein Herr Milosevic in Den Haag – darüber beschweren. Man bekommt sogar noch Anwälte gestellt, die diese Beschwerden formgerecht in Schriftform bringen. Es gibt sogar die Freiheit, uneinsichtig auf seiner Sicht der Welt zu beharren.
All das ist möglich. Ich sehe komischerweise einen Milosevic lieber clownesk sich als verfolgte Unschuld aufführen denn als überführter Sünder auf dem Scheiterhaufen der Inquisition brennen. Hhmmm...
Zum Lebenssinn: Da kommen wir uns nicht näher.