BA - Best served cold

Kraven

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15.03.2004
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Ich wollte die Geschichte eigentlich für die Tausend Geschichten in einer Bar schreiben, bis mir aufging, dass sie in dem Setting nicht funktioniert.

Entsprechend, in Eigenregie, eine neue Kategorie, über Rache, Abrechnung und Coke bei drei Grad :D


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Totgeglaubt

We'll meet again
don't know where - don't know when
but I know we'll meet again
one sunny day

- Johnny Cash


Als Ian Cranby das Klopfen im Türrahmen hörte und aufblickte, sah er einen Toten.
Er hatte ihn selbst beerdigt.

„Ian.“

Die Stimme klang heiserer, als Ian sie in Erinnerung hatte. Doch er erkannte sie natürlich: rau und kratzig, wie ein Messer, das über einen trockenen Stein gezogen wurde. Dazu das Gesicht, hager und ausgezehrt, und Haut wie gegerbtes Leder, und die Narbe, die sich über die linke Gesichtshälfte zog, und nach der Ian sich nie getraut hatte, zu fragen.
Dies war John Jeremiah Corwin.
Der Mann, den Ian in einem flachen Grab zur letzten Ruhe gebettet hatte.

„Was dagegen, wenn ich mich setze?“
Corwin deutete auf Ians Tisch, auf dem sich eine halb volle Flasche Bourbon befand, und ein Satz Karten, mit dem er sich eine Patience-Runde gelegt hatte. Es gab nicht viel zu tun hier oben, wenn die Jagd vorbei war und er die Stunden totschlagen musste, bis sein Körper endlich müde genug war, um zu schlafen. Nichts zu tun, und auch niemanden, um sich zu unterhalten; die nächste Siedlung war zwei knappe Tagesmärsche von hier entfernt.
Als Ian zögernd auf den Stuhl ihm gegenüber deutete und zusah, wie sich sein Besucher langsam auf ihn zu bewegte, gab ihm diese Tatsache zu denken.
Corwin zog sein linkes Bein nach. Es war dieses Bein, dass ihm der Grizzly zerfleischt hatte.
Unter anderem.

Corwin seufzte leise, als er sich Ian gegenüber setzte.
„Hab Dank. Mein Bein macht mir manchmal Kummer, und es war ein langer Weg.“
Ian schluckte. Er brauchte einen Moment, um seine Stimme zu finden.
„Ich...“ Er biss sich auf die Zunge.
Sag es nicht.
Aber es half nichts, nicht wahr? Manchmal musste man das Offensichtliche aussprechen.
„Wir dachten, du seist tot.“
Corwins Mund formte sich zu einem Lächeln, das keines war.
„Ist das der Grund, aus dem ich in einem Grab aufgewacht bin?“
Er lehnte sich zurück und legte den Kopf schief, wie um seinen Nacken zu entspannen.
„Ich hab mit Andrews gesprochen. Du erinnerst dich an Andrews, oder? Ist grade oben in Aberdeen, steckt das Geld aus der Expedition in den Aufbau einer Poststation. Will ein paar feste Routen... etablieren und dann die ganze Sache ausweiten, wie er sagt.“
Corwin schmatzte kurz, als er bei „etablieren“ ankam, wie um das Wort zu kosten.
„Jedenfalls hat er gemeint, er hätte dich und deinen Bruder mit mir zurückgelassen, um über mich zu wachen. Um mir zu helfen, falls ich wieder aufwache, hat er gesagt. Oder mich zu begraben, falls ich sterbe.“
Er sah Ian an.
„Ihr seid da ein bisschen durcheinander gekommen, hm?“
Ian spürte seinen Blick zur Tür irren und sah das Lächeln auf Corwins Gesicht, diesmal ein ehrliches. Er verwarf den Gedanken.
Er würde es nicht zur Tür schaffen.
Corwin war zwischen ihm und der Tür.

„Corwin...“ Ian fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen.
„Dieser Grizzly hat von dir kaum was übrig gelassen. Du kannst nicht wirklich sauer auf mich... auf uns sein. Ich meine, du hattest Fieber, und deine Wunden haben sich entzündet, dein ganzer Zustand wurde einfach immer schlechter. Du warst bewusstlos, und wir haben dich einfach nicht wach gekriegt, wir haben's versucht. Und wir waren auf Arikara-Gebiet, und du weißt, was die mit...“ Er biss sich auf die Lippe.
Corwin nickte bedächtig und kratzte sich nachdenklich den Bart.
„Es ist lustig, dass du das erwähnst. Ja, ich weiß, was die mit Gefangen machen. Ich hab mich ein bisschen mit dem Gedanken beschäftigt, als ich da so alleine im Wald lag.“
Er hielt sich den Handrücken vor den Mund, wie um ein Gähnen zu unterdrücken.
„Ist einer dieser Fälle, wo die Gedanken auf Wanderschaft gehen, weißt du?“

Er griff nach der Whiskeyflasche und zog sie zu sich.
„Zwei Gläser.“
Er nahm sich eines von ihnen, drehte es prüfend zwischen den Fingern und betrachtete kurz das Kerzenlicht, dass sich auf ihm spiegelte.
„Ich gehe nicht davon aus, dass du mit mir gerechnet hast. Ich habe draußen keine weiteren Spuren gesehen. Erwartest du jemanden?“
Ian zog es in Erwägung, zu lügen, und blickte in die stahlgrauen Kanoniersaugen des Mannes, den er hünfhundert Meilen weiter östlich beerdigt hatte. Er entschied sich für die Wahrheit.
„Mein... mein Bruder wollte morgen herkommen und mir helfen, das Fleisch und die Pelze zur Siedlung zu bringen.“
„Na so ein Zufall. Der zweite Mann, den ich demnächst noch einmal sehen wollte. Der Weg hierhin hat sich gelohnt.“ Corwin stellte das Glas ab, füllte es bis zum Rand und stellte die Flasche auf seine Seite des Tisches.
„Und es war ein ziemlich weiter Weg, muss ich sagen. Hab ja zuerst geglaubt, ihr wärt wieder zurück nach Missouri, bis Andrews meinte, dass du dir hier oben diese Hütte aufgebaut hättest. Da war ich schon fast auf dem halben Weg nach unten, aber immerhin, denk ich mir.
Immerhin.“
Er fuhr sich geistesabwesend durch das strähnige Haar.
„Es hätte ja auch der ganze Weg sein können, hm? Wenn man erstmal hundert Meilen auf dem Bauch gekrochen und seine nutzlosen Beine hinter sich hergezogen hat, sieht man die Dinge daraufhin in einem etwas anderen, wie sagt man. Winkel.“
Corwin setzte das Glas an und nahm einen Schluck.
„Und so gesehen hätte sich der Weg auch dann noch gelohnt, wenn er die halbe Welt umfasst hätte. Und wenn danach noch einmal die gleiche Strecke hätte laufen müssen, um deinen Bruder zu finden, dann hätte ich auch das getan.
Weißt du, warum?“
Er schaute Ian fragend an. Als er keine Antwort bekam, lächelte er nachsichtig.
„Weil es mir sonst einfach keine Ruhe gelassen hätte, verstehst du? Keine Ruhe. Da liegst du dann nachts wach und starrst auf die Sterne, oder an die Zimmerdecke oder auf das Meer aus Tannenzweigen, das sich über dir wölbt und sich sanft im Wind wiegt und dich eigentlich mit seinem Rauschen einlullen sollte.
Aber das tut es nicht. Du lässt nicht zu, dass es das tut, weil da dieses andere ist, das an dir nagt und dich nicht schlafen lässt, und selbst wenn du dann irgendwann schläfst, verfolgt es dich in deinen Träumen. Das Wissen, dass da etwas ist, was du zu klären hast. Ein... ein Ziel, dass du dir nicht wirklich selbst setzt, sondern dass dir von außen aufgezwungen wird und sich tief in dich hineinfrisst, bis es dein Handeln bestimmt.“
Er setzte das Glas ab und sah Ian lange an.
„Willst du mich nicht fragen, was dieses Ziel ist?“

Ian schloss die Augen. Er hatte hier oben keinen Revolver, weil die Dinger zum Jagen nutzlos waren. Er hatte die Gewehre, aber sie waren bei der Tür, hinter Corwin, also hatte er die Gewehre nicht.
Er hatte ein Messer. Aber Corwin hatte auch ein Messer, und von ihnen beiden war Corwin derjenige, der mit besagtem Messer gegen einen Grizzly angetreten war und ein Unentschieden herausgeschlagen hatte.
Ian verbesserte sich in Gedanken.
Corwin saß gerade vor ihm. Das hieß, dass er mit einem Messer gegen einen Grizzly angetreten war und gewonnen hatte.
Ian hatte nicht vor, als Feigling zu sterben, aber er würde den Teufel tun und sich einen Messerkampf mit Corwin liefern. Nicht, solange es noch irgendeine andere Möglichkeit gab.
„Was ist dieses Ziel, Corwin?“, fragte er.
Corwins Augen leuchteten kurz auf.
„Ich bin sehr froh, dass du mich das fragst, mein Junge, wirklich, sehr froh. Denn weißt du, ich hab mich nicht leicht getan, das für mich herauszufinden.
Ich bin in meinem eigenen Grab aufgewacht, mit Erde bedeckt, und mit Schmerzen, die... ich will jetzt nicht jammern. Aber ich sage bewusst, dass ich mit ihnen aufgewacht bin, nicht von ihnen. Denn weißt du, wovon ich wach wurde?“
Ian schüttelte den Kopf. Corwin lächelte.
„Von Trommeln, mein Junge. Von dem Klang von Trommeln, der durch die Wälder hallte. Und wie du vorhin schon so treffend bemerkt hast, wissen wir beide, was die Arikara mit Gefangenen machen.“
Und mit diesen Worten zog er sein Messer.

Ian sprang auf. Seine Rechte schnellte zum Messer an seinem Gürtel, seine Linke stützte sich auf den Tisch, und Corwin schlug ihm den Arm weg, packte ihm im Vorüberfallen am Kragen und setzte ihm die Klinge an die Kehle.
Ian erstarrte.
„Du nimmst sofort die Hand von deinem Gürtel und setzt dich hin, oder ich schwöre bei Gott, dass ich dich vom Hals bis zu den Eiern aufschneide und deinen stinkenden Leichnam draußen zum Ausbluten an die Wand nagle, wo dein Bruder dich dann finden wird.“
Ian spürte den sanften Biss an seiner Kehle, als Corwin den Druck des Messers erhöhte.
Langsam, ganz langsam, nahm er die Hand von seinem Gürtel.
„Setz dich!“
Ian setzte sich, und spürte, wie der entsetzlich konzentrierte Druck der Klinge von seinem Hals verschwand.
Er wusste, dass er sich deswegen besser fühlen sollte.
Er tat es nicht. Sein Herz schlug ihm weiterhin bis zum Hals. Er hatte Klapperschlangen gesehen, die langsamer waren als Corwin.
Seine Hand wanderte zu seinem Hals. Sie war blutbeschmiert, als er sie zurückzog.

Das Messer weiterhin über der Tischplatte haltend, glitt Corwins Linke in seine Umhängetasche und holte einen knotigen, grünen Apfel hervor. Er zeigte Apfel und Messer in einer gleichermaßen kurzen wie theatralischen Geste vor, wischte das Messer nachlässig an seinem Hosenbein ab und begann, den Apfel zu schälen.
„Nur eine kleine Stärkung, das ist alles. War mir nicht sicher, ob du viele Vorräte hier oben hättest, und ich hätte es nicht gewagt, dir einfach so etwas wegzuessen. Das wäre Diebstahl gewesen.“
Er steckte den Apfelspalt in den Mund und kaute bedächtig.
„Und wo wir gerade bei Diebstahl sind, rate mal, was ich gefunden habe, als ich mich aus meinem Grab rausgewühlt habe.“
Ian schluckte und wollte etwas sagen, doch seine Stimme versagte. Er konnte den Blick nicht von dem Blut an seiner Hand nehmen, nass und schillernd rot.
Corwin lächelte.
„Ganz genau, Junge. Sehr, sehr wenig. Ihr habt mein Gewehr mitgenommen. Alle Kugeln, jedes Körnchen Pulver. Ihr habt mein Messer genommen. Meine Vorräte, mein Trinkwasser, meine Decken. Mein Pferd, selbstverständlich, aber ehrlich gesagt bin ich euch deswegen nicht böse. Es wäre grausam gewesen, das arme Tier so alleine im Wald zu lassen.“
Ian wurde schwindelig. Seine Lippen kribbelten, und ihm wurde bewusst, dass irgendetwas mit seiner Atmung nicht stimmte; sie ging zu schnell. Der Schnitt war nicht tief gewesen, die Wunde war vermutlich nur oberflächlich, aber-

Corwins ließ seine Hand vorschnellen und schnippte vor Ians Augen mit den Fingern.
„Ian. Ich habe dir eine Frage gestellt.“
Ian blinzelte.
„Ich...“
„Die Bibel, Junge. Die kleine Bibel, die ihr auf mein Grab gelegt habt. Das war nicht meine, so viel weiß ich. Was hatte es damit auf sich? Musstet ihr Gewicht sparen, um mehr von meinen Sachen tragen zu können?“
Ian schüttelte den Kopf. „Nein, wir... ich...“ Er stoppte. Atmete tief ein und wieder aus. Ruhig bleiben, sagte er sich. Beruhig dich.
„Das war Jacobs Idee. Wir wussten nicht, was wir bei einer Beerdigung sagen sollten, und er meinte, in der Bibel stehen doch alle heiligen Worte drin. Alle, also auch die passenden für Beerdigungen. Wir haben sie also auf dein Grab gelegt, damit du... naja. Damit Gott sich quasi die passenden heraussuchen kann, verstehst du?“
Ein Ausdruck aufrichtiger Verblüffung legte sich auf Corwins Gesicht.
„Herrje“, sagte er. Er lachte, und für eine Sekunde glaubte Ian, etwas wie aufrichtige Wärme aus dem Laut herauszuhören.
„Herrje“, sagte er noch einmal.
„Da spüre ich doch fast sowas wie Rührung. Das hat mich die ganze Zeit beschäftigt, weißt du das? Ich meine, da dachte ich, ihr hättet das Ding weggeworfen, weil Gottes Wort für euch ohne Bedeutung ist.
Weil euch klar war, dass Er euch nach dieser Vorführung christlicher Nächstenliebe sowieso eher abschätzig begegnen würde.
Aber jetzt... herrje, ich hab mich da komplett geirrt. Ihr habt euren Nächsten bei lebendigem Leibe begraben und euch mit seiner kompletten Habe aus dem Staub gemacht, aber zumindest habt ihr seinem Seelenheil gedacht. Das gleicht die Sache doch fast schon wieder aus, meinst du nicht?“
„Corwin, wir-“
„Ich persönlich glaube ehrlich gesagt nicht, dass es das tut“, sagte Corwin. Er nahm den den Apfel wieder auf.
„Muss aber sagen, dass es mir was zum Nachdenken gegeben hat, während ich so durch die Gegend kroch. Hab die Bibel selbst nie gelesen, aber ich war als kleiner Junge manchmal in der Sonntagsschule. Bisschen was ist hängen geblieben. Mein ist die Rache, sagt der Herr, das hat sich damals sofort in mir eingebrannt. Klingt gut. Schwingt so dieser Hauch von Gerechtigkeit und Strafe mit. Hat damals wie heute eine Saite in mir zum Klingen gebracht.
Aber da steht natürlich noch viel mehr drin, über Sühne und Vergebung, zum Beispiel. Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein, und vor Gott sind alle Sünden gleich.“
Er schnitt einen weiteren Apfelspalt ab und kaute bedächtig. „Das hat mir wirklich zu denken gegeben. Weiß es noch ziemlich genau, das war zu dem Zeitpunkt, als das Fleisch an meinem Bein anfing zu faulen. Hat gestunken wie die Pest, und das willst du so oder so nicht, vor allem nicht, wenn du genau weißt, dass es Wölfe in den Wäldern gibt. Wo wir dabei sind, was wurde aus den Pelzen, die ich geschossen habe? Guten Preis dafür gekriegt?
Nein, schon okay“, er hob abwehrend die Hand, bevor Ian etwas sagen konnte.
Es war die Hand, die das Messer hielt.

„Ist nicht wichtig. Mein Bein also. Ich hab es auf diesen morschen Baumstumpf gelegt. Damit die Fliegen ihre Eier in mein Bein legen, verstehst du? Damit die Maden das tote Fleisch weg fressen.
Das ist so eine der Situationen, in denen man über die Wege nachdenkt, die man in seinem Leben eingeschlagen hat. Ich hab also nachgedacht, an den Tag, an dem ich Tracey Stuarts geküsst habe. Hab das einfach so gemacht, obwohl sie bereits verlobt war. Hat ziemlich Ärger deswegen bekommen, glaube ich.
Und ich dachte mir, wenn vor Gott alle Sünden gleich sind, dann liege ich jetzt hier, mit meinem gestohlenen Kuss. Kann ich da, hab ich mich gefragt, hab ich da wirklich das Recht, wütend auf jemanden zu sein, der mich zur Zeit meiner größten Not im Stich gelassen, der mich lebendig begraben und sich mit all meinen Besitztümern auf und davon gemacht hat?“
Er legte den Apfel weg und goss sich ein zweites Glas ein.
„Ich hab da lange drüber nachgedacht.“
Er nahm einen Schluck.
„Ziemlich lange.“
Er setzte das Glas ab.
„Ich glaube, es liegt an der Formulierung, dass die Antwort nicht sofort in die Richtung von Nachsicht und Vergebung geht.“
Corwin nickte andächtig. Er unterdrückte ein Gähnen, ohne Ian dabei aus dem Blick zu lassen.
„Und ganz ehrlich, so schön es ist, ein paar der alten Geschichten auszutauschen, es ist nicht ganz das, warum ich hier bin. Nicht ganz.“
Sein Blick bohrte sich in Ian, und Ian spürte, wie sich sein Körper spannte. Er hatte keine Chance gegen jemanden, der so schnell war wie Corwin, aber der Tisch war zwischen ihnen, und wenn...
„Ich will mein Gewehr zurück.“
Die Spannung verpuffte.
„Was?“
Corwins Miene blieb ungerührt. „Mein Gewehr, Junge. Hab es vor ungefähr fünfzehn Jahren bei einem Waffenschmied in Harrisburg gekauft. Wunderschön gearbeitet. Ahornschaft, Lauf und Abzug mit Messing eingelegt. Nicht zu protzig, verstehst du, aber hatte einfach eine ganz eigene... Persönlichkeit.“
Seine Augen blieben auf Ian geheftet. „Einem Mann sein Gewehr zu nehmen... verdammt, Junge, du hättest genauso gut auf mein Grab pissen können.“
Er erhob sich. „Ich werde es wieder an mich nehmen, wenn du nichts dagegen hast. Das heißt, dass ich dir jetzt den Rücken zudrehe, und wenn ich das Gefühl kriege, dass du dich auch nur einen Zoll bewegt hast, werde ich meine gute Erziehung für einen kurzen Moment vergessen.“
Er drehte sich um und ging zu der Wand, an die Ian die Gewehre gehängt hatte, Corwins Flinte und direkt darunter die Büchse für Schrot. Corwin nahm sein Gewehr, ohne die zweite Waffe auch nur eines Blickes zu würdigen, und hängte es sich über die Schulter.
„Ich nehm mir auch ein paar Kugeln und etwas Pulver, falls du keine Einwände hast. Hab gehört, dass die nächste Siedlung eine Weile von hier entfernt liegt.“
Mit diesen Worten nahm er Ians Kugelbeutel und Pulverhorn an sich, verstaute beides in seiner Umhängetasche. Er blickte Ian an, und Ian spürte, wie seine Hände sich in die Tischplatte krallten. Corwin lächelte.
Und ging zur Tür.
„Hab Dank für deine Gastfreundschaft, aber ich will dich länger aufhalten. Ich wette, dass dir guter Schlaf genauso wichtig ist wie mir.“

Und Corwin ging.
Erst, als er bereits halb im Türrahmen war, drehte er sich, ein letztes Mal, zu Ian um. Die Anspannung und die Wut schienen aus ihm gewichen, und Ian glaubte beinahe, so etwas wie Sanftheit in seiner Stimme zu erkennen.

„Weißt du, was das Schlimmste war, Ian? Das war nicht die Angst vor dem Tod. Ganz im Gegenteil, die Möglichkeit kommt einem irgendwann regelrecht verheißungsvoll vor. Aber durch den Schlamm zu kriechen, und du hörst diese Trommeln, und nachts hörst du das Heulen der Wölfe, und du weißt nie, nie, wann sie kommen, und ob sie kommen, und du klammerst dich an diese verzweifelte Hoffnung, es vielleicht doch zu schaffen... so etwas kann einen Mann brechen, verstehst du?“
Er lächelte.
„Grüß deinen Bruder von mir. Ich werde irgendwann nochmal vorbei schauen. Und macht euch keine Sorgen, falls es auch mal in einen anderen Teil des Landes verschlägt. Ich werd euch schon finden.“

Mit diesen Worten verließ John Corwin die Hütte und verschwand, leise pfeifend, in der Nacht.
Es dauerte eine Weile, bis Ian merkte, dass er den Atem angehalten hatte.
Es dauerte noch ein bisschen länger, bis er etwas dagegen tun konnte.
Als die Luft schließlich kam, zwischen schnappenden, beinahe schluchzenden Atemzügen, merkte Ian, dass seine Hände angefangen hatten zu zittern.
Es sollte lange dauern, bis sie damit aufhörten.


And would you please say hello to the folks that I know
Tell them I won't be long
And they'll be happy to know that as you watched me go
I was singing this song

We'll meet again.
 
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