Wunderland ist abgebrannt
Sie erwachte im Dunkeln. Es war still und die dünne, raue Decke juckte über ihre Haut. Sie strampelte sie weg und kratze sich, während sie sich umsah. Ein Fenster warf Licht in ihre Welt, aber sie konnte keine Sterne im dunklen Himmel erkennen. Irgendwo verschwammen Dächer im Hintergrund. Was sollte sie tun, was wollte sie tun? In einer Ecke saß etwas auf einer Stange. Sie fixierte es. Es sah wage flauschig aus und schien sich zu bewegen, wenn sie kurz wegsah.
„Alice. Alice, komm hier rüber.“
Die Stimme war leise, aber drängend.
„Zur Tür.“
Sie richtete sich auf, brauchte ein paar Sekunden um gegen Schwindel anzukämpfen, atmete dann durch und stand auf.
Zuerst musste sie sich am Bett festhalten, dann ging sie zaghaft weiter über den kalten Boden, Schritt für Schritt, konzentriert auf das dunkle Linoleum starrend, als ob ihr das Halt geben könnte, bis sie mit dem nackten Zeh gegen die Stange trat.
Sie fluchte.
„Still. Hier drüben ist die Tür“, sagte die Stimme.
Sie schob sich in die Richtung, die Hand ausgestreckt, bis sie auf Widerstand traf. Holz. Sie tastete weiter über abgeblätterte Farbe, bis sie eine Türklinke in die Hand bekam.
„Warte! Horch“, mahnte die Stimme.
Andere Stimmen waren hinter der Tür zu hören, die näher kamen.
„Geben sie ihr halt 20 Milligramm Dirotreptcin und dann wird das schon“, sagte eine Stimme.
„Wenn sie meinen, Doktor“, antwortete eine zweite, weibliche.
Sie hielt den Atem an, wartete und horchte. Schritte entfernten sich. Es wurde still.
„Jetzt. Los“, drängte die Stimme.
Alice atmete aus, öffnete die Tür und schlich geschwind hinaus, schloss die Tür wieder und schaute sich um.
Der Korridor war dunkel, die Leuchtstoffröhren an der tiefen Decke spendeten kaum Licht. Direkt vor ihr war eine weitere Tür, wenige Meter nach rechts und links kreuzten weitere Gänge.
Sie ging auf die Tür vor ihr zu.
„Halt“, ermahnte sie eine Stimme.
Sie schaute sich um und sah ein dickes, hundeähnliches Tier mit Schweineschnauze neben der Tür sitzen, aus der sie gerade gekommen war.
„Ich würde da nicht reingehen“, sagte es.
„Warum?“
„Weil das nicht gut für dich ist.“
„Warum?“
„Jetzt hab ich dir schon so oft geholfen, da wäre doch etwas Vertrauen angebracht.“
„Ich habe so meine Probleme mit Vertrauen“, schnaubte Alice.
„Hör auf Peter“, sagte eine Stimme von der anderen Seite.
Eine Katze saß dort und leckte ihre Pfoten.
„Wir müssen dich hier rausbringen.“
„Eine grandiose Erkenntnis.“
Die Katze stoppte ihre Fellpflege abrupt und lächte sie mit einem breiten Grinsen an.
„Warum denn so ernst? Wir wollen nur dein bestes.“
„Tut mir leid“, Alice rieb sich die Schläfen. „Ich fühl mich so müde und schlapp.“
„Dann brauchst du Kaffee“, schlug Peter vor.
„Ich mag keinen Kaffee.“
„Und ich mag mir nicht dauernd das Fell ablecken und Haare auskotzen. Aber du brauchst was um dich aufzuwecken“, befahl die Katze.
„Ich hab dort hinten Automaten gesehen. Da gibt’s bestimmt auch Kaffee“, meinte Peter.
„Ich würde mich lieber wieder hinlegen“, sagte eine Stimme neben Alice.
Alice drehte sich zur Wand und sah dort eine kleine, haarige Spinnen sitzen.
„Eine Spinne!“, rief die Katze.
„Mach sie tot!“, grunzte Peter.
„Lasst den Unsinn“, keifte die Spinne, die zur Sicherheit ein paar Meter wegkrabbelte.
„Dann lass du deine dämlichen Einwürfe, Ludmilla“, fauchte die Katze.
Peter schaute um die Ecke.
„Bahn frei zu den Automaten.“
„Vorsichtig, lausch lieber nochmal“, sagte die Katze, die die andere Richtung sondierte.
„Jetzt oder nie!“, Peter stürmte los.
„Ach, verdammt. Hinterher“, die Katze stupste Alice an, bis sie dem fetten Viech hinterhertappste, während sich Ludmilla hinterherschwang.
Zwei blinkende Kästen warteten darauf allerlei Köstlichkeiten auszuspucken. Einer enthielt Kaffee.
„Los, pack dir nen Becher und füll ihn.“
„Ich hab kein Geld.“
Der fette Peter seufzte. Er ging zum Automaten und rüttelte daran. Steckte seine Pfote in den Ausgabeschlitz und zerrte keuchend.
„Du machst zuviel Lärm“, beschwerte sich die Katze.
„Ich habs gleich.“
Es knackte und seine Augen wurden groß, dann zog er triumphierend einen Schokoriegel hervor.
„Du hast dir die Pfote verstaucht und was aus dem Süßigkeitenautomat geholt. Und nun?“
„Haben wir was zu essen. Das gibt Kraft. Auch was?“, er kaute auf Plastik und Karamell herum.
„Nein, danke“, wehrte Alice angewidert ab.
„Und nun?“
„Vielleicht kann sich Ludmilla mal nützlich machen.“
„Aus Automaten stehlen während man halbnackt durch die Krankenhausflure rennt. Glaub ihr das ist eine gute Idee?“, mahnte die Spinne.
„Wenn du ihr nicht hilfst, dann holt sie sich in ihrem Hemdchen noch den Tod. So ein schöner, warmer Kaffee hilft ihr bestimmt mehr als Vorträge“, knurrte Peter.
Seufzend machte sich Ludmilla auf und verschwand durch eine Spalte im Automaten. Man hörte leises rumpeln, knacken, quietschen und pfeifen. Dann Stille und die Stimme der Spinne von unten.
„Ich habs.“
„Es passiert nix.“
Unter dem Automat kam etwas hervorgerollt.
„Ich hab eine Münze gefunden.“
„Auch gut.“
Alice hob das staubige, alte Geldstück voller Spinnweben hoch, musste beim Aufstehen einen weiteren Schwindelanfall überwinden, atmete durch und steckte es in den Schlitz, wofür sie mehrere Versuche benötigte.
Ein Becher wurde bereitgestellt und der Apparat begann zu arbeiten.
„Lauter geht’s wohl nich, Drecksmaschine. Und dafür zahlt man noch“, knurrte Peter.
„Da kommt wer“, signalisierte die Katze, die um eine Ecke gelinst hatte. Sie stürmte auf sie zu.
„Wir müssen los.“
„Der Becher ist gleich voll“, sagte Peter, der auf das dampfend fließende, schwarze Gesöff starrte, als könnte er damit den Vorgang beschleunigen.
„Egal, wir müssen weg“, die Katze sauste an ihnen vorbei.
„Noch ein bisschen, noch ein bisschen...“
„Los jetzt! Hierher“, fauchte die Katze, die an der nächsten Ecke stand.
„Ok, schnapp ihn dir.“
Alice packte den Becher und spurtete los, rutschte um die Ecke. Hundschwein und Katze waren schon an der nächsten.
„Weiter.“
Sie kamen in einen weiteren dunklen Raum. Unscharf erkannte sie Möbel. Eine Fahrstuhltür lockte mit blinkenden Lichtern, aber hinter ihnen erklangen Schritte.
„Verstecken, hinter dem Sofadings da.“
Sie kauerte sich so gut sie konnte hinter das Sofa. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass der Kaffee zu heiß war und ließ ihn fallen. Der Inhalt ergoss sich brennend auf ihre Haut, bevor er auf dem Boden verfloss. Sie wollte schreien, aber biss stattdessen in die Pfote der Katze die ihr den Mund zuhalten wollte.
„Leute schritten am Sessel vorbei, die Fahrstuhltür ging auf, etwas wurde herausgeschoben, Stimmen murmelten.
„Ist aus dem dritten Stock gefallen. Brüche, Quetschungen, Schädeltrauma, stab...“
Die Stimmen verschwanden und es wurde wieder leise.
„Danke dafür“, fauchte die Katze und zog ihre Pfote zurück um sie zu mit der Zunge zu behandeln.
„Der schöne Kaffee“, heulte Peter und leckte ihn verzweifelt vom Boden auf.
Alice zog die Luft durch die Zähne ein, zum Glück verging der Schmerz wieder. Und jetzt war sie vorerst wach.
„Zum Fahrstuhl.“
„Nein, keine gute Idee“, nuschelte die Katze.
„Die Treppe können wir besser übersehen.“
„Oder wieder zurück ins Bett.“
Das war Ludmilla.
Katze und Hundschwein starrten sie böse an.
„Red keinen Blech“, Peter trat nach ihr und die Spinne huschte außer Reichweite.
„Komm, wir müssen weg“, die Katze lief vor zur Treppentür.
Alice zog sich ächzend hoch und schleppte sich hinterher. Die Tür war schwer und sie bekam sie nur halb auf, weil Peter und Katze ihr ziehen halfen. Sie quetschte sich in den düsteren Treppengang.
Am Geländer festhalten, einen Schritt auf die Stufe, anderes Bein nachziehen.
Das Linke oder das Rechte? Welches hatte sie zuerst gesetzt? Sie rutschte fast weg und lehnte sich auf das Geländer. Alice schaute nach unten. Wie ein Strudel schien sich die Treppe ins Nichts zu bohren. Meter für Meter, für Kilometer. Lichttage. Lichtjahre.
Sie rutschte ein paar Meter am Geländer entlang, dann fiel sie auf den Hintern und setzte sich erstmal.
„Wir müssen weiter“, ermahnte sie die Katze.
„Eine kleine Pause kann nicht schaden“, keuchte Peter.
„Ach, du fettes Vieh. Wir sind gerade mal vier Stufen weit gekommen.“
„5 mindestens und ich hab eine verstauchte Pfote.“
„Und mich hat sie gebissen. Aber hörst du mich jammern? Weiter.“
Alice zog sich hoch, noch ein paar wackelige Schritte, mit den Hacken über die Treppenränder schleifend, schräg am Geländer festklammernd, bis zur ersten Wende. Dort war auch ein Fenster, das mehr Licht spendete. Wurde es schon Tag?
Peter seufzte, als sie am Fenster ankamen.
„Ach, was würde ich doch jetzt für ein Bier geben. Einen guten Schuss...“
„Fokus. Erstmal hier raus“, das war wieder die Katze.
Alice klammerte sich an das Fenster. Ihr war schlecht, sie brauchte frische Luft. Sie riss am Hebel, aber nichts passierte, ehe das Hundeschwein sie unterstützte. Das Fenster schwang mit Wucht nach hinten, traf sie am Kopf und fegte alle zu Boden.
Keuchend zog sie sich hoch, sie merkte wie ihr der Schweiß von der zitternden, schmerzenden Stirn tropfte, versuchte die frische Luft einzuatmen, gurgelte und übergab sich.
Karamellbrocken tropften langsam gen Boden.
Sie starrte röchelnd auf einen wunderschönen Park voller Büsche und Bäume.
Sie schienen sich verschwommen im Wind zu wiegen.
„Vielleicht.. sieht gar nicht so hoch aus.“
„Naja, die Büsche könnten den Aufprall schon hemmen.“
„Das ist doch verrückt. Gehen wir wieder zurück.“
„Nein, das müssen wir jetzt durchziehen.“
„Ja, komm, das geht schnell und dann...irgendwer nimmt uns schon mit zu..“
„Keine Namen.“
„Wir sind doch unter uns.“
„Leute, das ist ein Fehler.“
„Auf 3. 1.. 2..“
Die Visite füllte fast das gesamte Krankenzimmer aus.
„So, für alle Neuen: Hier haben wir Alice Carroll. Zweiter Suizidversuch. Auch abhängig von Lewis. U.a. Frakturen, Zerrungen, Schädel-Hirn-Trauma. Katatonisch. Hat versucht sich aus dem Fenster im Treppengang zu stürzen. Wenn sie es vorher noch nicht wussten, gleich nochmal: „Don't do drugs, kids“, der Chefarzt schaute mahnend in die Runde.
„Was ist mit ihren Augen?“
„Nebenwirkungen von dem Zeug, sie werden langsam blind. Ist aber nur eine ihrer Sorgen jetzt.“
„Sind das alles Verletzungen von dem Sturz?“
„Fast, Cathlyn. Sie hat noch Bissverletzungen, vermutlich selbst zugefügt und eine Verbrennung. Wie sie das geschafft hat, wissen wir nicht.“
„Was ist das?“
„Hämatome und Kratzspuren dank der Drogen. Das sollten sie aber erkennen Peter.“
„Was wird nun aus ihr?“
„Sie verbleibt jetzt in dem Zustand, da ist nicht viel zu machen, äh.. Ludmilla, nicht wahr? Dank dem ganzen Zeug in ihrem Körper wird das aber nicht mehr sehr lange dauern. Nehmen sie das als Warnung, aber sich auch nicht zu sehr zu Herzen, beides würde sie kaputtmachen. Auf zum nächsten Patienten.“
Drei Jungärzte blieben noch kurz zögernd stehen.
„Tja, Scheißjunkies“, meinte der fette Pete und warf noch ein Schokobonbon ein.
„Cat, kannst du mir nachher noch ein paar Zigarettchen leihen?“
„Leihen, hm? Und noch etwas Benzinchen für das Feuerchen um sie anzuzünden? Manman. Kommst du, Ludi?“
„Gleich“, sagte die angesprochene Frau, fuhr mit ihren schlanken Fingern durch ihr dünnes, langes Haar und schaute auf das unbewegliche, blind nach oben starrende, dürre Mädchen im Bett.
„Tut mir leid“, murmelte sie.