BA - 1001 Geschichten in einer Bar

Mantis

Heilende Hände
Registriert
27.02.2003
Beiträge
1.824
Dieser Thread ist Teil des Projekts Bardenakadamie.
Jeder ist willkommen, seine eigene(n) Geschichte(n) zum Thema "1001 Geschichten in einer Bar" hier zu posten und dazu eingeladen, die Geschichten der anderen Schreiberlinge zu kommentieren.

Viel Spaß beim Schreiben und Lesen. :)

Bisherige Beiträge:

(Ohne Titel) - Timestop
Ambrosia - Mantis
Feierabendbier - Mantis
The Incredible Maria - Zelon
Tribut - Lisra
The Wonderful Joseph - Zelon
Die beiden Typen - Zelon
Der Dünne - Zelon
Das Wort - Zelon
 
Zuletzt bearbeitet:

Timestop

Running out of Time
Registriert
17.04.2002
Beiträge
4.875
Vorwort

Werter Leser.
Zwischen diesem Vorwort und der Geschichte folgt ein Prolog, der per Click sichtbar gemacht werden kann. Aber obacht, es stellten sich mir und damit vielleicht auch Ihnen die Frage, ob man ihn überhaupt braucht? Erzählt er möglicherweise Belanglosigkeiten über die Hintergrundgeschichte, die man auch so herausgefunden hätte und nicht ins Gesicht geklatscht bekommen will? Passt er thematisch zu dem was kommt, oder ist es ein Stilbruch? Vielleicht wollen sie die Geschichte erst einmal so genießen (oder sich durchquälen) bevor sie sich den Prolog anschauen. Vielleicht wollen sie aber auch informiert sein, werter Leser. Oder wollen einfach nicht von allzuviel Text erschlagen werden.

Ihre Entscheidung. Entspoilern zum lesen, einfach überspringen für Abenteurer und technisch unbedarfte.


Achja, der Text entspricht nicht vollständig den Forumsregeln, sondern macht sich den Ausnahmeparagraph der Hank-Doktrin, unterzeichnet vom damaligen Amtsinhaber Nightie, zur Freiheit der bardischen Sprache zunutze. Nicht in die Augen von Kindern oder sehr empfindlichen Personen lassen, ansonsten diese schnell ausspülen. Ebenso gibt es keine Gewähr für das Niveau, Rechtschreibung und länger als 3500 Wörter ist die Story auch. So. Los gehts.

Prolog

Wir schreiben das Jahr 1001 nach Christo, dem Verhüller. Die Menschheit hat sich über den Weltraum ausgebreitet, dank der multiplen Lichtraumstringtheorie ist die Reise zwischen den Sternen über Lichtjahre hinweg in wenigen Tagen möglich. D.h. in den wenigen Tagen des Jahres, in denen sie akzeptiert wird.
Technik und Design haben sich ansonsten im Schneckentempo weiter- oder zurückgebildet, die großen Entdeckungen liegen im Detail. DETAIL (Digital ExtraTerrestrial and Artificial Intelligence Lookout), das ist eine neue Bezeichnung für das einstige Internet oder Webdit3.0 und gleichzeitig der Name eines der wichtigsten Unternehmen, seit es an die Googlebörse gegangen ist.

Die Union ist ein universaler, miserabler Verbund von Planeten, demokratisch, tief kapitalistisch korrupt und vermutlich aktuell die stärkste verbliebene Militärmacht im bekannten Universum. Neben weiteren politischen Ordnungen und Unternehmen gibt es aber natürlich zudem intern andere Interessengruppen, Kriminelle, Widerstandskämpfer, Terror- und Idealisten.
Nun, genug mit dem Spaß, es wird ernst. Auf einem winzigen, wüsten Planeten eines Doppelsterns spielt unser kleines, verworrenes Drama. Wir begeben uns an einen vertrauten Ort zur sozialen Interaktion in Fleisch und Blut. Einer Taverne, Kneipe oder auch...

0001

Frank stolperte in die Bar, sah sein Ziel, humpelte direkt zur Theke, bestellte ein Bier und ließ sich erschöpft auf einen Hocker fallen. Er grüßte den überraschten Mann neben sich, packte dann das ankommende Glas mit beiden Händen und nahm einen kräftigen Schluck. Er rülpste glücklich, warf sich eine handvoll Nüsse aus einer Schüssel in den Mund, kaute laut und nahm einen weiteren Schluck Bier. Er rülpste erneut, strich sich seine Hand an seinem fleckigen, staubigen Karohemd ab und nahm sich ein paar mehr Nüsse aus der Schale.
Der Mann neben ihm an dem Tresen bestaunte dieses sich wiederholende Schauspiel eine Zeitlang, bevor er seine exotische Brille zurechtrückte und ihn nun ansprach.
„Schon länger nichts mehr gegessen, was?“
„Und getrunken.“
„Erzähl?“
„Ist eine witzige Geschichte.“
Der andere schaute sich um und machte eine aufmunternde, zugleich ungeduldig Geste.
Frank zeigte ihm ein schiefes Grinsen, mit Nussresten zwischen den Zähnen. Er nahm noch einen Schluck Bier und orderte eine weitere Schüssel Nüsse vom Barkeeper.

„Pass auf. Ich lerne auf Alpha Centauri in einer Kneipe, nicht so schön wie die hier, so eine Schnalle kennen. Sagt, sie müsste unbedingt zur Erde und macht mich an. Super Arsch, tolle Möpse. Nach ein paar Bier zuviel sind wir dann im Bett gelandet. War ein geiler Ritt. Jedenfalls, danach meint sie ob ich sie mitnehmen kann, wo doch eine Fuhre dahingeht und ich auf dem Schiff arbeite. Ich sag großzügig: „Ok, ich schmuggel dich an Bord.“.
Hab also ein paar befreundete Musiker dazu gebracht sie in ihrem Gepäck zu verstecken. Wir haben sie dann aufs Schiffe gebracht. Alles prima, einfacher Flug.“

Er beobachtete seinen Zuhörer, der verstärkt in ein Taschentuch hustete, dann grimmig darauf schaute, während jemand neben ihnen ein bestelltes Getränk entgegennahm und verschwand, bevor er das Stück Stoff einsteckte.
„Zur Sache.“
„Ich hab dann gerade wie verabredet unser “Paket“ abgeliefert, keine Probleme dabei, da hat sich diese Göre schnappen lassen, aber sich so ein hohes Tier angelacht und behauptet ich hätte sie gezwungen mitzukommen. Der hat dann gleich die Unionstruppen geholt die mich mit einer ganzen Armee festsetzen wollten. Ich plaudere also noch ganz locker mit dem korrupten Oberaffen von denen, versuche Zeit zu gewinnen, als endlich die Energie ausfällt, die Lichter ausgehen und die Schwerkraft sich kurz verabschiedet. Da hab die Situation genutzt, bin in eine Rettungskapsel und hierhin.“
Er nahm noch einen Schluck.
Der Brillenträger machte große Augen hinter dicken Gläsern.
„Hierhin? Wo das Ding auch gelandet ist und sie dich suchen?“, er zeigte auf den Frachter der einige Meilen weiter draußen im Raumhafen stand.
„Jo, musste dich doch treffen. Aber keine Angst, hab n paar alte Tricks genutzt und Haken geschlagen. Waren ein paar Meilen schöner Marsch. Wenn du mir jetzt vielleicht nen Transport besorgen könntest? Ich möchte eigentlich nicht all zulange bleiben.“
Er stieß erneut auf, bevor er eine Frage anhängte.
„Warum habt ihr überhaupt diesen Felsen ausgesucht zum abfangen?“
„Weil ich nur hier auf die schnelle die Dinge kriege die ich brauche und sie dann einfacher aufs Schiff bekommen hätte, du perverser Idiot“, dachte Schahri, schwieg aber, sah Frank zuerst an ohne eine Miene zu verziehen, lächelte dann breit, warf eine Münze über den Tisch und deutete dem Barkeeper an, dass sie für das Bier seines Nachbarn war.

0010

Die Münze rollte eilig über den Tresen und hatte ihr Ziel fast erreicht, als eine Hand sie erschlug und zum erliegen brachte. Die Hand ließ die Münze spielerisch zwischen Fingern kreisen und gab sie dann an den Barkeeper weiter.
Der Mann dem die Hand gehörte, wartetet bis der Barkeeper außer Reichweite war und beugte sich dann zu seiner Begleiterin herüber.

„Komm schon, Francine. Was ist passiert?“
Die angesprochene Frau vergrub ihr Gesicht weiter in die Theke und schwieg.
„Was ist...“
„Ich hab dich gehört, James“, zischte sie seinen erneuten Versuch nieder.
„Ich bin nicht rangekommen. Und dann sind noch Truppen von der Union aufgetaucht. Kurz danach gabs scheinbar einen Unfall im Maschinenraum und wir sind hier abgestürzt“, murmelte sie.
„Scheiße. So viel Pech gibt’s doch nicht.“
Er knabberte an seinen Fingernägeln.
„Oder meinst du, da wollte noch jemand die Daten stehlen und hat was manipuliert? Wer weiß denn alles davon?“
„Keine Ahnung. Ich bin, bis wir hier Notgelandet sind, nicht mehr weitergekommen“, sie nippte an ihrem Drink.
Wozu besorge ich dir den Code wenn du es alleine nicht schaffst? Ich hätte mitkommen sollen. Aufs Schiff. Nicht als hinterherkriechende Fliege.“
„Einer muss die Fluchtmöglichkeit außerhalb offenhalten“, verteidigte sie sich.
„Du hast also keinen Kontakt zu ihm oder bist ins Zimmer gekommen?“, fragte er.
„Nein. Er hat ja auch nen Wachtrupp.“

James schaute unauffällig zu einem Tisch, an dem einige Uniformierte herumlungerten und ein Kartenspiel zockten.
„Wir müssten irgendwie da reinkommen. Vielleicht wenn wir die Uniformen klauen und ihre ID-Cards.“
„Das klappt doch so nicht“, warf sie ein.
James stand auf.
„Was hast du vor?“, fragte sie besorgt.
„Auf jeden Fall setz ich mich mal zu den Typen und plaudere mit ihnen. Mal sehen...“
Francine packte auf einmal sein Gesicht und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Als sie ihn losließ, starrte er sie verwundert an.
„Was war das?“
„Gehen wir rauf“, antwortete sie.
„Was?“
„Ich will ficken. Es waren zwei lange Wochen“, sie packte seinen Arm.
Er zeigte geringen Widerstand.
„Aber... der Job...“
Sie schmiegte sich an ihn, bis sich ihre Nasenspitzen berührten und hauchte aggressiv:
„Der ist auch morgen noch da, so schnell ist das Schiff nicht repariert. Und ich will jetzt, dass du mir das Hirn rausvögelst.“
Als sie sich abwandte und an seinem Arm zog, ließ er sich willig abschleppen. Sie stießen auf der Treppe mit einer Mechanikerin zusammen, die sich entschuldigte und an ihren Platz an der Bar setzte.

0011

„Was darf es sein?“, fragte der Barkeeper die Frau im Overall.
Die begutachtete ihre Hand, strich sich dann den Sand aus ihrem kurzen, schwarzen Haar und bestellte fröhlich ein Bier. Sie sah sich langsam um. Ihr Blick blieb bei den drei Sicherheitsleuten hängen, die ihre Karten ins Spiel warfen und dabei Sachen zuriefen. Sie schlenderte gemütlich mit ihrem Bier zu ihnen und setzte sich auf einen Stuhl mit der Lehne voran.

„Nabend Leute.“
„No talking.“
Einer der Männer schob eine Karte zu ihrem Platz und legte eine in der Mitte ab.
„Ace of Spades.“
„Was ist das?“, fragte sie.
Ihr wurde eine weitere Karte zugeschoben.
„No talking.“
Sie nahm die Karten auf. Die Männer schmissen ihre Karten schweigend reihum auf einen Stapel in der Mitte, der Mann rechts neben ihr legte seine Vorletzte ab.
„Last card.“
Sie starrten sie an. Sie schaute auf ihre Karten, betrachtete den Stapel und legte eine Karte ab.
„Last card.“
„Gut“, kommentierte der Mann ihr gegenüber, verzog das Gesicht und zog eine Karte. „No talking.“
„Bombing“, sagte der Mann links von ihr, legte eine Karte ab und blickte sie unauffällig aus den Augenwinkeln an. Es herrschte ein angespannter Moment der Bewegungslosigkeit.
Ohne auf ihre Karte zu schauen legte sie sie auf den Stapel.
„Beeindruckend.“, meinte der Mann neben ihr und einer klatschte in die Hände.

„Nicht schlecht für eine erste Runde. Es war doch deine erste, Mechanikermaus?“, fragte der Mann der ihr gegenübersaß, während er die Karten zusammenschob und neu mischte.
„Sicher“, antwortete sie. „Kurzweilige Partie.“
„Ein bisschen mehr Respekt vor unseren hart arbeitenden Ingenieuren“, mahnte der Spieler links neben ihr seinen Nachbar ab. „Mein Name ist Steve.“ Er reichte ihr die Hand, wodurch sie die Waffe in seinem Holster sehen konnte.
„Nicole“, antwortete sie, als sie die kräftige Hand ergriff.
„Sam und Max“, sagte er, während er im Uhrzeigersinn auf die anderen beiden deutete.
„Wie laufen die Reparaturen?“, fragte Steve.
„Gut, dauert bestimmt keinen Tag mehr.“
„Super, dann können wir von dem Sandhaufen hier fort. Ähm. Sorry, falls du hier wohnst.“
„Ne, ich gehöre zu der Bordtruppe.“
„Schade das wir uns nicht schon vorher über den Weg gelaufen sind“, raunte Steve und schaute sie an.
„Ja, schade“, antwortete Nicole und schaute zurück in seine blauen Augen.
„Heyhey, Steve. Noch eine Partie?“, unterbrach Max ihren Augenblick.
„Warum nicht? Ich mag solche Spiele“, meinte Nicole und winkte dem Barkeeper zu, noch ein Bier rüberzuwerfen.

0100

Der Barkeeper überlegte kurz und warf es dann aufgrund ihrer sehr aufmunternden Geste tatsächlich, sie fing es geschickt auf. Er wischte sich den Schweiß von der Glatze. Alles gut gegangen bisher. So viele Gäste hatte er hier, in diesem abgelegenen Zwillingssternsystem mit seiner kleinen Bergbaugemeinde, sonst nie. Als er die Hotelkneipe „Binärbar“ gegründete hatte, einige Jahre nach seinem Abgang aus einem Labor der Union und langer Arbeitslosigkeit, hatte er nicht mehr damit gerechnet nochmal mehr als die hiesigen Bergarbeiter und deren Familien zu sehen. Jetzt waren sogar Zimmer belegt. Er schaute auf sein Diplom.
Dr. Carl Abel. Jetzt Barkeeper. Er musste lächeln, als er spürte wie die Tür wieder aufgerissen wurde und sich Stille ausbreitete.

Er drehte sich um und sah mehrere schwarz uniformierte, schwer bewaffnete Männer eintreten, ihre Gesichter hinter Helmen mit Visieren verdeckt, vier an der Zahl, die in die Mitte des Raums traten, von allen beobachtet.
Unionstruppen. Er hatte gehofft niemand von denen würde den Frachter verlassen. Sie sondierten den Raum und gingen dabei langsam auf ihn zu.
„Was macht die Staatsgewalt hier?“, fragte er in einem möglichst neutralem Ton, während er seine Hände mit dem erstbesten beschäftigte was ihm einfiel. Die Theke zu putzen.
„Haben sie die gesehen? Wir sind auf der Suche nach Leuten“, sprach ihn der Mann an der Front mit einer tiefen, blechernen Stimme an, während er ihm ein kleines Hologramm von seinem Armband projizierte.
„Sind sie doch immer“, dachte Carl.
Er glotzte und sah mehrere Visagen gestochen scharf vor ihm auftauchen.
„Ich kann mich nicht erinnern. Die sagen mir nichts“, er schüttelte den Kopf.
Die Männer begannen auszuschwärmen und sich Gesichter anzusehen.

Die schweigende Menge beobachtete sie argwöhnisch und Carl begann unabsichtlich etwas weiter unten nach seiner Waffe zu tasten. Er versuchte sich zu beruhigen. Keinen Fehler jetzt, nicht nervös werden. Von rechts hörte er leises Gewimmer und eine Stimme die: „Nicht schon wieder“ flüsterte, und schon sprang einer der Soldaten hin und packte den Ruhestörer. Der Mann im fleckigen, verstaubten Karohemd ging schluchzend in die Knie.
„Das ist ein Gesuchter“, bellte die blecherne Stimme mit Blick auf ein Hologramm. „Er hat eine Pistole!“
Sofort zogen einige der Soldaten ihre Waffen, was zu einem aufkreischen des Mannes führte.
„Mitnehmen.“
Sie zerrten den Kerl nach draußen, der weiter um Gnade bettelte und schwor, dass das nicht seine Waffe sei.

0101

Das Pärchen saß auf einer kleinen Holzbank vor der „Binärbar“ und schaute auf die kleinen Schiffe und den großen Frachter im Raumhafen, während hinter ihnen die letzte der beiden Sonnen ihren Abgang machte. Das Klima wurde jetzt angenehm.
Dann kamen die Soldaten heraus, einen Mann mitziehend, der um einen Anwalt bat und sie mögen ihn doch nicht auf den Uranus schicken. Nur nicht wieder auf den Uranus.
Das Mädchen auf der Bank starrte ihnen hinterher.
„Was machen sie jetzt mit dem Schwein?“
„Vermutlich irgendein Gefängnisplanet“, sagte der Mann und setzte mit einem bösen Grinsen hinzu: „Wenn er Glück hat.“
„Gerechtigkeit.“
„Nein, es ist wichtig die richtigen Freunde zu haben.“
Sie nickte.
Der gut gekleidete Mann beobachtete das viel jüngere Mädchen, das nun wieder in den Sonnenuntergang starrte.
„Eva?“
„Ja, Brian?“
„Ich hab noch Platz in meiner Kabine. Wenn du immer noch mit nach Bagdad zurück willst, bin ich für dich da.“
Sie blickte zu ihm auf.
„Einfach so?“, sie lächelte ihn an.
Er zuckte mit den Schultern und lächelte zurück.
„Ich hab allerdings nur ein Bett.“
Das Lächeln auf ihrem Gesicht erstarb und veränderte sich zu einer hohlen Grimasse. Ihre Augen wurden kurz glasig, dann stand sie auf und ging Richtung Tür.
Er sprang auf.
„Ich bezahle auch.“
Sie drehte sich empört herum.
„Ich mache das nicht mehr! Verpiss dich.“
Sie ging in die Bar und er folgte ihr.

Sie war fast am Tresen als er sie sanft festhielt.
„Komm schon. Es sind noch fünf Wochen. Wir haben beide unseren Spaß, das versprech ich dir, und du hast dann Startkapital für dein neues Leben.“
Sie schien kurz zu zögern, dann riss sie sich los.
„Lass mich!“
Ein Kerl an der Theke ging dazwischen.
„Lassen sie die Frau doch bitte in Ruhe.“
„Das geht dich nichts an, Brillenschlange“, herrschte Brian ihn an und stieß ihn weg.
Als der andere Mann ihn am Arm packte, begannen sie zu ringen und Brian warf ihn mühelos zu Boden. Eva schrie.

„Gibt es hier Probleme, Sir?“, knurrte eine Stimme hinter Brian.
„Es gibt wirklich gleich welche, wenn sich noch mehr einmischen“, grunzte Brian und drehte sich zu der Stimme um.
Er schaute in die blauen Augen von einem Sicherheitsmann vom Schiff, der sich bedrohlich vor ihm aufbaute. Zwei seiner Kollegen saßen mit offenem Mund hinter ihm. Brian spannte die Muskeln an und hob den Finger.
Das Geräusch des Durchladens einer Flinte erweckte die Aufmerksamkeit aller. Der Barkeeper legte auf ihn an.
„Du findest sofort hier raus und hast Hausverbot. Marsch.“

Brian hob langsam die Hände, nickte und schürzte die Lippen, dann verließ er die Bar, nicht ohne den Sicherheitsmann noch vorher anzurempeln und zuzuraunen:
„Du bist erledigt.“

0110

„Did I ever think of you ...as my enemy..“
Eine Truppe von drei Musikern versteckte sich lässig in einer Ecke der Bar und beobachtete alles. Einer spielte auf einer Gitarre Melodien. Sie waren so bunt und auffällig gekleidet, das es fast schon wieder übertrieben unscheinbar wirkte.
„Did you ever think of me, as your best friend?“, summte der Gitarrenspieler.
„Aber natürlich“, meinte der Mann mit langem schwarzen Haar neben ihm und strich durch dessen lockiges, blondes Haar.
„ever tried to reach your eden...“
„Erst letzte Naaaacht..“, fiel der Langhaarige ein.
„Hört auf mit dem Quatsch“, spottete ein dürrer Kerl mit einem schwarzen Hut auf dem Kopf und einem Tattoo auf der Wange, das eine Sechs zeigte.
„I feel surrounded by power.“
Der Hutträger schlang den Schal des Gitarrenspielers lässig um dessen Gesicht.
„But you can't hide the truuuth...“, sang dieser gedämpft weiter.
„Klappe jetzt. Sie ist auf dem Weg.“
Eva kam langsam auf sie zu, blieb nervös vor ihnen stehen und schaute sich um.
„Gilt der Deal noch?“, fragte sie unglücklich.
„Natürlich“, bestätigte der Hutträger mit gefalteten Händen.

0111

Die Uhr zeige Sieben und den Anbruch eines neuen Tages an.
Steve lag auf der Seite im Bett und schaute in Nicoles Gesicht, die mit geschlossenen Augen auf dem Bauch lag und leise schnarchte. Was sie wohl träumte? Er ließ seinen Blick über ihren Rücken hinunterwandern und entdeckte amüsiert die 9, die auf ihrem Hintern tätowiert war.
Plötzlich schlug sie die Augen auf, schien für einen Moment verwirrt, schaute ihn an, runzelte die Stirn und lächelte dann.
„Guten Morgen. Schaust du mir etwa beim Schlafen zu?“
„Ich wollte dich gerade wecken, damit wir nicht zu spät zur Arbeit kommen.“
„Wann fängt deine Schicht an?“, fragte sie, während sie aus dem Bett hüpfte und ins Bad flanierte.
„In knapp einer Stunde.“
„Wann genau?“
Er sagte es ihr und hörte wie sie die Dusche anstellte.
„Was bewacht ihr auf dem Schiff eigentlich?“, rief sie dabei.
„Alles. Das Schiff und seine wichtigen Gäste“, die letzten zwei Worte würzte er mit ätzender Ironie.
„Und dann machst du sowas?“
„Ich bin im Wachdienst der Schiffsgesellschaft, nicht der Union. Und wenn das jetzt Probleme gibt, dann such ich mir halt nen neuen Job.“

Er stand auf und folgte ihr ins Bad. Er dachte erst daran sie in der Dusche zu besuchen, dann griff er stattdessen doch erst zur Zahnbürste. Im Spiegel sah er ihre nackte Silhouette.
„Und weswegen sind die Unionstruppen da?“
„Keine Ahnung. Vielleicht mehr Leute um gegen Terroristen abzusichern“, nuschelte er mit der Zahnbürste im Mund.
„Was hast du gesagt?“
Er nahm einen Schluck Wasser aus dem Hahn, spuckte aus und richtete sich wieder auf um es zu wiederholen, als sie plötzlich hinter ihm stand, einen Arm um seinen Hals schlang und zudrückte. Er versuchte sich zu befreien während sie ihm die Luft abschnürte und ihr Knie ihn mit schrecklich schmerzender Präzision in den Rücken traf.
„Tut mir Leid“, presste sie zwischen gebleckten Zähnen hervor, während sie ihn zu Boden drückte. Er versuchte zu schreien, aber keine Worte formten sich mehr in seinem aussetzendem Gehirn. „No talking“, flüsterte sie sanft. Und wiederholte nochmal leiser und direkt in sein Ohr, während er bewusstlos wurde: „Tut mir echt Leid. Du warst gut.“

1000

Eva atmete durch und klopfte an die Tür.
„Ja?“, kam es nach einer Weile.
„Ich bin es“, krächzte sie.
Eilige Schritte kamen näher und die Kabinentür wurde aufgerissen. Brian sah etwas derangiert aus, als hätte er gerade gedöst und schaute überrascht.
„Ich habs mir überlegt. Nimmst du mich mit?“
Er blieb erst wie angewurzelt stehen, sah dann in den Gang, nickte den zwei steif dastehenden Wachleuten zu und ließ Eva dann rein.
„Wieso der Sinneswandel?“, fragte er, während er die Tür verschloss und sich dagegen lehnte.
„Ich will einfach wieder nach Hause“, murmelte sie. „Egal wie. Hast du was zu trinken?“
Er holte ein paar Gläser und einen achtjährigen Scotch aus einem Schrank in der Ecke und stellte sie auf den Tisch in der Mitte.
„Wie bist du überhaupt aufs Schiff gekommen?“
„Einer deiner Sicherheitsleute hat mich reingelassen.“
„Einfach so? Unnützes Dreckspack. Wars der blauäugige Held von gestern? Den knöpf ich mir eh nochmal vor.“
„Ja“, sie zuckte traurig mit den Schultern.
Er goss etwas von dem Whiskey in die Gläser und stellte ihn wieder zurück zu all den anderen Spirituosen. Er hielt einen Moment inne und gönnte sich kurz ein Raubtierlächeln. Als er sich umdrehte, umarmte sie ihn und flüsterte ihm ins Ohr:
„Danke, Minister.“

Dann gab sie ihm eines der Gläser und trank aus dem anderen. Er nahm einen Schluck und nickte:
„Du wirst es nicht bereuen. Ich werde bald einen großen Aufstieg feiern. Wenn du willst, ich kann bestimmt sogar eine Bürostelle in einem Unionsfusionslabor freimachen. Wenn dich das interessiert... “, er räusperte sich und stellte das Glas weg.
„Wenn du magst kannst du da eine Arbeit oder in einem Biolabor....“, er blinzelte, legte den Kopf schräg, begann zu schwanken, hielt sich verkrampft an einem Tisch fest, kippte weg und schlug hin. Eva musterte ihn verächtlich, während er regungslos auf dem teuren Teppich liegenblieb, warf eine winzige Phiole mit farbloser Restflüssigkeit darin in ihr Glas und stellte dieses auf den Tisch.
Sie öffnete mit zitternden Fingern eines seiner Augen, holte eine kleine Glaskugel hervor die dieses scannte und verbarg sie wieder in ihren Taschen.
Sie ging zu einem Bild, das eine Szene aus Ali Baba zeigte, nahm es ab, öffnete den dahinter liegenden Safe indem sie das Glasauge auf den Augenscanner legte, eine Schlüsselkarte nutze und einen Code eingab. Sie nahm nur einen winzigen Datenträger heraus, verschloss den Safe wieder und hängte das Bild auf.
Auf dem Weg nach draußen schaute sie noch einmal auf seinen still daliegenden Körper, spuckte aus, zerzauste ihr Haar, verschob einen Schulterträger ihres Kleides und atmete dann tief ein. Sie trat aus der Kabine, schloss die Tür, wartete eine Weile und sagte dann: „Er ist wieder eingeschlafen.“
Ohne dass die Wachleute sie aufhielten eilte sie hinunter bis zu einem bestimmten Eck im Maschinenraum, wo sie einer Mechanikerin das Erbeutete zusteckte. Dann verschwand sie.

1001

Schahri steckte das blutige Taschentuch wieder weg, schob seine Brille zurecht, positionierte die Bombe äußerst vorsichtig und stellte den Timer ein.
Tick-Tack. Dies würde ein Tag sein, den die Galaxie nicht so schnell vergessen würde. Dieses unaufhaltsame Meisterstück der Vernichtung würde einen bestimmten Teil des Schiffs in Fetzen reißen. Genug, um den Unionsverbrecher und seine Vasallen zu erledigen. Er wollte gerade gehen, als er ein Geräusch hörte und sich wieder hinter den Gepäckstücken und Kisten versteckte. Er griff nach seiner Waffe und erinnerte sich, dass er ja keine mehr hatte. Pech. Egal, er verging als Puzzleteil für etwas Größeres, das den Fall von etwas Bösem bringen würde, Stück für Stück.

Es waren zwei Frauen, eine davon in einem Overall, die den Raum vorsichtig betraten. Sie kamen ihm irgendwie bekannt vor, aber er konnte ihre Gesichter nicht erkennen.
„Hier können wir reden“, flüsterte die im Mechanikeranzug.
„Du solltest schon längst weg sein“, die andere.
„Fran, komm doch mit. Hier ists mir zu gefährlich für dich.“
„Geht nicht, ich bleib mit den Jungs hier und beobachte alles weiter. Wir treffen uns wieder auf der Erde. Aber du musst jetzt los, bevor sie Alarm schlagen. Nimm das Mädel mit und bring die Daten zum HQ.“
„Was ist mit James?“
„Mit dem werd ich schon fertig. Der Idiot hätte das Zeug doch am Ende wieder für einen Winzpreis an die Union verkauft.“
Die andere zögerte und hielt etwas in die Luft, als wäre es eine Reliquie.
„Diebe?“, dachte Schahris angeekelt. Sie würden keine Zeit mehr haben zu entkommen. Tick-Tack. Neun Sekunden verblieben.
„Das ist das das wichtigste. Das sind die Enthüllungen die die Union bloßstellen und schwächen werden wie keine Meldung und Konflikt zuvor. Damit bringen wir sie zu Fall. Für die Sechs“, intonierte Francine.
Die andere ließ den Kopf hängen, stimmte dann aber ein.
„Für die Sechs.“
Schahris mit dem grandiosen kommenden Ende beschäftigter Geist brauchte einige Sekunden um die Worte richtig aufzunehmen und zu verstehen. Er schluckte.

Tack.
 

Mantis

Heilende Hände
Registriert
27.02.2003
Beiträge
1.824
Ambrosia​


Manche trinken um zu vergessen, andere trinken um zu feiern. Einige trinken nur in Gesellschaft, andere ziehen es vor, mit ihrem Glas und – wichtiger – der darin in stets minderem Maße enthaltenen Flüssigkeit alleine zu sein. Manche kennen ihre Grenzen und verlassen die Bar auf ihren eigenen Füßen, schreitend, tänzelnd, schaukelnd, wankend, andere fallen, werden gezogen, getragen, geworfen.
Doch sie alle haben eines gemein: die Faszination für den Rausch, dieser flüchtige Moment des Glücks, der einsetzt, kurz nachdem das Getränk ihrer Wahl ihnen Lippen und Gaumen benetzt, sie von Innen zu wärmen beginnt.

An diesem Ort, in dieser Bar ist dieses Getränk unter dem Namen ‚Ambrosia’ bekannt, der Götternektar. Es ist nicht bekannt, ob der Wirt selbst diese Bezeichnung eingebracht hat, oder ob es sich im Laufe der Zeit in der Umgebung herumgesprochen hat, dass nach dem dritten Glas dieser Substanz auch die überzeugtesten Atheisten die Engel singen hören.

Rob Tylor behielt die Bar geübt im Blick. Er war zwar noch lange nicht so erfahren wie sein Vater, doch er lernte schnell und wusste bereits, welche Charaktere man im Auge behalten musste, und wessen Ambrosia man nach der zweiten Runde nur noch verdünnt servieren sollte.
Er sah sich selbst als einen gewissenhaften Sohn, und er arbeitete hart daran, die Erwartungen seines Vaters nicht zu enttäuschen.
Mit 16 hatte er seine schulische Ausbildung an den Nagel gehängt und war bei seinem Vater in die Lehre gegangen, und jetzt, drei Jahre später, sah alles danach aus, als hätte der Vater ihn endlich als seinen Erben akzeptiert.

Die Stunden vergingen wie zähflüssiger Sirup, während Rob auf die Rückkehr seines Vaters wartete.
Heute Nacht, hatte er ihm gesagt, ist es soweit. Heute Nacht verrate ich dir das Geheimnis unseres Erfolgs und mache dich zu meinem Teilhaber, meinem Erben.
Die Worte des Vaters waren so mysteriös wie vielversprechend

Rob versuchte, seine Erregung im Zaum zu halten, als er nach der Sperrstunde hinter dem letzten, längst nicht mehr angeheitertem Gast die Türen schloss, den Riegel vorschob und zum großen Wandteppich hinter der Theke ging.
Er sah sich mehrmals um, bevor er den schweren Stoff zur Seite schlug und die dahinter liegende Stahltür freilegte. Mit vor Nervosität zitternden Fingern gab er die Zahlenkombination ein, wartete exakt 23 Sekunden, gab die Zahlenkombination erneut ein – mit einer leichten Variation. Löste einen der Riegel, steckte einen schweren Schlüssel in das einzige Schloss, drehte ihn erst gegen, dann mit dem Uhrzeigersinn, und wiederholte ein drittes Mal die Zahlenkombination, in umgekehrter Reihenfolge.

Seine Spannung löste sich nicht, als die Tür sich widerstandslos vor ihm öffnete. Im Gegenteil, er fühlte sein Herz rasen und konnte keinen klaren Gedanken fassen, als er in den spärlich beleuchteten Gang trat.

Gleich ist es so weit.

Die hellblauen Neonleuchten führten ihn tiefer unter die Erde, als er erwartet hatte, und schon nach wenigen Sekunden hatte er völlig die Orientierung verloren. Ihm war, als hätte der Weg sich selbst und die Fläche, auf der er die Bar vermutete, schon mehrfach auf verschiedenen Ebenen gekreuzt.
Gerade als er anfing, an seinem Verstand zu zweifeln, sah er vor sich die zweite Stahltür im Dämmerlicht auftauchen.

Der Raum, der ihn hinter jener Tür erwartete, war in zwei Teile unterteilt. Im vorderen Bereich ragten zahllose Reihen von schweren, alten Holzfässern bis unter die Decken empor. Nur ein schmaler Pfad führte zwischen den gelagerten Kostbarkeiten mit der Aufschrift Ambrosia hindurch zu einer weiteren Abtrennung. Massive Eisengitter und ein stahlverstärktes Tor, das jedoch weit offen stand.
Dahinter stand, mit dem Rücken zu ihm, sein Vater, Gesicht und Aufmerksamkeit gänzlich der Statue zugewandt.

Die Statue. Eine mehr als zwei Meter hohe massive, dunkle Steinskulptur, der ein unbekannter, aber begnadeter Künstler die Form einer muskulösen, androgynen Gestalt gegeben hatte, deren Flügel sich über die gesamte Breite des Raumes ausbreiteten.
Die blicklosen Augen waren in die Ferne gerichtet, die steinernen Gesichtszüge ausdruckslos. Obwohl die Figur auf ein Knie gesunken war, hatte ihre Haltung nichts unterwürfiges, was möglicherweise an der geballten rechten Faust lag, die sie vor sich in die Luft streckte. Oder an dem geflammten Schwert in ebendieser Faust, dessen Spitze die Decke beinahe berührte.
Erst auf den zweiten Blick sah Rob den Speer, der kunstvoll in die linke Seite des Engelswesens eingearbeitet war, knapp unter der Stelle, an der man ein Herz vermutet hätte.
So realistisch.
Dann, erst dann, bemerkte er die Kanüleninstallation, die sich um die Einstichstelle rankte. Die dunkelrote, fast schwarze Flüssigkeit, die langsam aus der steinernen Wunde durch die Schläuche lief und über Filtersysteme in eines der großen Holzfässer geleitet wurde.

Erst überkam ihn Erstaunen, und als er realisierte, was er da vor sich hatte, drohte ihn eine Welle der Übelkeit zu überwältigen.
Doch sein Vater hatte sich inzwischen zu ihm umgedreht und beobachtete ihn genau.
Rob wurde bewusst, dass dies die wahre Prüfung sein würde. Seine Reaktion bestimmte, ob sein Vater ihn als würdig erachten würde, sein Teilhaber zu werden.
Er streckte sich, machte sich größer als er war, als er sich fühlte. Versuchte, die passenden Worte zu finden, scheiterte an einer erneuten Welle der Übelkeit.
Dieser Ort ist nicht... richtig, dachte er, doch er sagte nichts. Konnte nichts sagen. Konnte nur stehen, starren.

Doch es schien, als musste er gar nichts sagen. Auch sein Vater war überwältigt vom Moment - allerdings ganz anders als er selbst.
In seinen Augen war ein Leuchten, das Rob schon lange nicht mehr gesehen hatte. Vielleicht zum letzten Mal, als seine Mutter noch am Leben gewesen war.
Doch es war nicht die schmerzlich vermisste Mutter, von der sein Vater nun sprach.

„Er ist hier seit wir diese Bar besitzen. Keiner weiß, wo er her kommt. War schon immer hier, blutet immer vor sich hin. Manchmal mehr, manchmal weniger. Hört aber nie auf, auch wenns mal nur ein paar Tropfen am Tag sind. Musste nie was anderes tun als das Zeug aufzufangen. Weiß auch nicht, wer zuerst auf die Idee gekommen ist, das zu trinken, aber die Leute fahren drauf ab. Engelsblut, der gute Stoff. Das wusste schon mein Vater, und vor ihm sein Vater.“
Während er redete, bewegte sich sein Vater um die Statue herum, zeigte auf die Schlauchkonstruktion.
„Das Einzige, was du tun musst, ist immer neue Fässer besorgen und die alten auswechseln, bevor sie überlaufen. Das Zeug ist zu schade, um so verschwendet zu werden. Jeder einzelne Tropfen ist Geld wert, Sohn, vergiss das nie.“

Rob brachte noch immer kein Wort heraus, konnte nur nicken und hoffen, dass ihm das Entsetzen nicht ins Gesicht geschrieben stand.

„Aber genug gefaulenzt. Diese Fässer schichten sich nicht von alleine! Heute blutet er wieder wie ein abgestochenes Schwein, ich habe das Fass in der letzten Stunde schon zwei Mal auswechseln müssen. Pack mit an, mach dich nützlich – du bekommst die Nachtschicht, bis dahin musst du das auch selbst können.“

Es war keine Bitte, er hatte keine Wahl – was sollte er auch tun, wo anders konnte er hin? So funktionierten Familienbetriebe eben.

Also packte Rob Tylor mit an und half seinem Vater, den stetigen Blutfluss aus der Statue in ein frisches Fass umzuleiten, versiegelte das volle Fass und stemmte es mit einiger Mühe in den Lagerbereich. Wo das Engelsblut lagern würde, vielleicht reifte es ja sogar noch nach, bis es dann in ein paar Monaten, wenn nicht schon in Wochen seinen Weg zu den zahlenden, rauschsüchtigen Kunden finden würde.

Die harte Arbeit half ihm für einen Moment, die nagenden Zweifel auszublenden und das zu vergessen, was er für die ersten Anzeichen eines Gewissens hielt.
Er war nie besonders anfällig für solche Dinge wie Mitleid gewesen, schon allein, weil er der Kundschaft gegenüber immer eine gewisse professionelle Distanz aufrecht erhalten musste. Jeder konnte sich – nach ausreichend Ambrosia – zu einem Störfaktor entwickeln, den er aus der Bar entfernen musste, bevor Schaden angerichtet wurde. Er konnte es sich nicht erlauben, Sympathien oder gar Freundschaften entstehen zu lassen.
Doch etwas an diesem Ort, an dieser Statue, an diesem Blut war falsch – das spürte sogar er.


Und als sein Vater schon längst schlafen gegangen war und es in dem kärglich beleuchteten Kellerraum für ihn nichts weiter zu tun gab als dem langsam strömenden Blut zuzusehen, das das Fass sicher nicht bis zum Morgen ausgefüllt haben würde, stand Rob Tylor von seinem provisorischen Lager auf und ging näher an die grauenhafte Lanze heran, die wie ein Mahnmal aus der Seite der Engelsgestalt ragte. Woran es auch immer gemahnen sollte – vielleicht an die menschliche Grausamkeit und die Notwendigkeit der Gnade, des Mitgefühls.

Es war mehr ein Impuls als eine Entscheidung, als er seine Hand um den Lanzenschaft schloss. Er spürte, wie die fast schwarzen Tropfen über seine Haut flossen, und ein Schauer lief ihm über den Rücken.
Das Blut war warm.

Er atmete tief durch, griff auch mit der zweiten Hand um den Schaft und schloss die Augen.
Nicht zu lange nachdenken. Wenn er sich bewusst machte, was er hier gerade tat, würde er es nicht tun, das wusste er.
Und zog mit all seiner Kraft.

Zuerst geschah gar nichts. Rob zweifelte an seiner Kraft, an seinem Verstand, und wollte schon aufgeben.
Doch dann ging ein Ruck durch die Lanze, und die Waffe löste sich mit dem schrecklichen Geräusch von Metall, das über Stein scharrt.

Unsicher, was er nun damit anfangen sollte, hielt Rob die erstaunlich leichte Lanze weiter in seinen Händen. Sie war aus einem ihm unbekannten Metall gefertigt und lag gut in der Hand. Obwohl er noch nie in seinem Leben eine kompliziertere Waffe als einen Schlagstock in seinen Händen gehalten hatte, fühlte er sich sofort mit dieser Lanze vertraut. Fast war ihm, als wolle die Waffe von ihm benutzt werden.
Lächerlich.

Eine Bewegung am Rande seines Gesichtsfeld riss ihn aus seinen Gedanken. Hatte die Statue sich gerade bewegt?
Er kniff die Augen zusammen, schüttelte unwillig den Kopf.
Die Luft hier unten war sicher schon verbraucht, und seine übermüdeten Augen begannen ihm Streiche zu spielen.
Immer noch kopfschüttelnd lehnte Rob die Lanze an die Wand. Als er sich umdrehte, war ihm, als würde der ausgestreckte Arm des Engels sein Schwert in einem anderen Winkel halten als gerade noch.
Und fast hätte er auch dieses Detail als Hirngespinst abgetan, wenn nicht in ebenjenem Augenblick das steinerne Ungetüm seinen Oberkörper zu ihm gedreht hätte, den Kopf leicht schief gelegt. Als wäre es verwirrt, sich nicht ganz sicher, was es hier tat, und was es mit diesem Menschen vor ihm anfangen sollte.

Die Verwirrung hielt nicht lange an.

Rob Tylor war der Erste, der in dieser Nacht starb. Er sollte nicht der einzige bleiben.
 

Lisra

Schmusekater
Registriert
06.02.2004
Beiträge
6.392
@Mantis
That was good. :)
Schöner Aufbau mit abrupter Stimmungsschwankung. So muss das sein, mit den paar Worten!

@Time
Das Monster les ich morgen. ;)
 

Timestop

Running out of Time
Registriert
17.04.2002
Beiträge
4.875
Die Engelsgeschichte ist so eine düstere Story mit vorhersehbarem (oder sagen wir zu erwartendem) tragischem Ende, wie man sie auch aus einer Episode Twighlight Zone oder Geschichten aus der Gruft kennen könnte. Aber schön zu lesen und (milde) gruselig. Ein Snack.
 

Zelon Engelherz

Wachritter des Helm
Registriert
20.09.2004
Beiträge
2.112
@Mantis

Meine Vorposter haben mir ja schon den Großteil der Worte aus den Mund genommen und daher kann ich auch nicht viel tun, als mich ihrer Meinung anzuschließen.

Schön gruselige Atmosphäre und ein passende Ende dazu:).

@Timestop

Ich musste den Text ja zweimal lesen, ehe ich ihn zu Gänze verstanden hatte, aber jetzt gefällt er mir ganz gut. Schön wie du diese Ansammlung von scheinbar nicht miteinander verbundenen Episoden und Figuren langsam aber sicher zusammenführst und selbst das kleinste Detail im Auge behälst.

Schön:).
 

Mantis

Heilende Hände
Registriert
27.02.2003
Beiträge
1.824
Feierabendbier

Feierabendbier. Abschalten von dem 9-to-5-Job, bevor er nach Hause geht. Sich im TV von unlustigen, unspannenden oder unerotischen Sendungen berieseln lässt bis er einschläft. Um 7 wieder mit dem Weckerklingeln aufwacht. Duscht, die Zähne putzt. Einen Kaffee und eine Zigarette frühstückt und sich in die pulsierenden Eingeweide der Stadt begibt wie an jedem Werktag.
Arbeiten für 1250 Netto im Monat, 25 Urlaubstage, und die Wochenenden. Natürlich die Wochenenden.
Anfangs, kann er sich erinnern, lebte er für die Wochenende, nutzte sie, um Freunde und Familie zu besuchen, doch jetzt ist er Mitte 30, die meisten seiner Freunde sind weggezogen oder verheiratet, und in seinem sonst so konstanten Leben gab es das letzte Mal im Studium eine weibliche Konstante. Er ist einsam und er weiß es.
Er weiß auch, dass die flüchtigen Begegnungen ihm nur an einem, höchstens zwei Abenden über die Einsamkeit hinweghelfen werden. Doch es kümmert ihn schon nicht mehr – er hat sich damit abgefunden, hat erkannt, dass dies alles ist, was das Leben ihm zu bieten hat.

Er zahlt sein Bier und das seiner Begleiterin, die vermutlich mindestens ebenso gelangweilt von ihrem Leben ist wie er – es muss langweilig genug sein, um ihn interessant erscheinen zu lassen. Oder vielleicht ist sie, wie er, längst schon nichts mehr als eine Gefangene ihrer eigenen Routine.
Es macht nichts aus, es würde nichts verändern, nichts würde sich verändern, nichts ändert sich jemals, alles bleibt immer so, wie es war.
Und auch er bleibt immer derselbe.
Wird nur älter, aber nicht weiser.
Lernt nur Leute kennen, findet aber keine Freunde.
Verdient nur mehr, wird aber nicht reicher.
 

Zelon Engelherz

Wachritter des Helm
Registriert
20.09.2004
Beiträge
2.112
Manche Sachen schreibt man wie in einem Rausch.
Diese Geschichte, die ja nichts ist als ein ellenlanger Prolog, gehört dazu.
Ob sie was taugt, weiß ich nicht, auf jede Fall war das eine der intensivsten Schreiberfahrungen seit langem. So ausgezehrt habe ich mich höchstens nach Vollendung meines Buches gefühlt und da hatte ich elf Monate dran gesessen :D.

Auf jeden Fall hoffe ich, dass der Text wenigstens nett lesbar ist. Zumindest habe ich mal wieder was gelernt. Ich liebe Monologe und Dialoge, egal wie gekünselt sie auch sein mögen;).

Frohes Weihnachtsfest, liebes Forum und vor allem liebe Mitautoren (Mitschreiber? Fellow Writers?).

Mal sehen, vielleicht gibt es nächstes Jahr wieder eine Story mit Weihnachten als Thema.

Liebe Grüße

Zelon:)

--------------------


The Incredible Maria

Im Radio spielten sie Last Christmas.
Samuel, der Barkeeper, wechselte augenblicklich den Sender. Das brachte ihm eine positive Reaktion seines derzeit einzigen Kunden eins.
„Danke.“
Der Afroamerikaner nickte freundlich zurück, um dann das gerade polierte Glas zu untersuchen. Zu seiner Zufriedenheit stellte er fest, dass er hier gute Arbeit geleistet hatte.
Er schaute seinen Gast an, der immer noch an seinem ersten Glas Whisky saß. So was war immer schlecht für's Geschäft, aber Samuels Bar hatte ihre treuen Stammkunden und guten Ruf dadurch erworben, dass die Gäste freiwillig irgendwann zu trinken begangen und dafür auch großzügige Trinkgelder spendierten.
Wie auf's Stichwort nahm sein Gast den letzten großen Schluck und setzte das Glas sanft wieder ab.
„Noch einen bitte.“
Samuel nickte und fühlte das Glas wieder schnell. Derweil begann sein Gast mit seiner Geschichte.
„Wissen Sie, der Song weckt Erinnerungen. Ironischerweise sogar die, über die er singt.“
„Tatsächlich, Sir?“
Der Hauptgrund für Samuels Wechsel zum Barkeeper nach seiner Ausbildung zum Lehrer, abseits der drohenden Arbeitslosigkeit, war, der dass er sich tatsächlich gerne mit Leuten unterhielt. Damit entsprach er also wirklich dem Klischee des mitfühlenden Barkeepers, wobei man sagen musste, dass er bezüglich seiner Fähigkeit Ratschläge zu geben sich doch relativ bescheiden gab und viel lieber zuhörte.
Sein Gast nickte, als er den Drink wieder in Empfang nahm.
„Ja. Meine erste, größte und bisher einzige wahre Liebe. Kennen Sie das? Wenn man so verrückt nach jemanden ist, dass man meint, die Welt drehe sich nur um diese eine Person und einem selbst?“
„Durchaus, Sir.“
Wobei sich seine Leidenschaft in letzter Zeit etwas abgekühlt hatte. Das machte seine Beziehung mit Lars keineswegs weniger schön oder erfüllend.
Sein Gast fuhr derweil fort.
„Wissen Sie, bis ich sie traf, mochte ich Frauen nicht einmal. Im Gegenteil, ich habe sie gehasst. Zumindest glaubte ich alle Frauen zu hassen, aber eigentlich mochte ich nur die Einserschülerinnen nicht, die mich immer gehänselt haben. Aber sie wissen ja, als Jugendlicher gibt es nur Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß. Alle waren Huren, außer Mama.“
„Hmhm.“
„Umso ironischer, dass die Person, nach der ich meine frühere Philosophie ausrichten sollte, Ayn Rand war.“
„Du liebe Güte!“
„Da sagen Sie was, aber zu dieser Zeit, so mit siebzehn bis fünfundzwanzig, erschien es mir so, als hätte ich in den Brunnen der Weisheit geschaut und tiefe, erhellende Schlücke genommen. Außerdem war ich ein auf mich selbst fixiertes Arschloch, was bei Miss Rand immer hilft, wenn man so darüber nachdenkt. Nachschütten bitte.“
„Teilen Sie sich die Schlücke ein, genießen Sie die Züge.“
„Da sagen Sie was. Kann ich noch ein Glas Wasser haben?“
„Bitte sehr.“
„Danke. Wo war ich? Ach ja, Ayn Rand und mein junges Ich. Da war ich also, jung, gut verdienend auf mich selbst konzentriert und alle hassend, auch Leute die nach Miss Rand als Parasiten angesehen wurden. Ich fühlte mich ihnen allen überlegen, aber natürlich nicht glücklich, also hasste ich alle umso mehr, um das Ganze zu übertünchen. Half natürlich nicht viel. Da war ich also, guter Job, großes Auto, große Wohnung, wenig richtige Freunde, aber ich hatte ja mich und nur mich, das musste doch reichen. So dachte ich wirklich.
Und dann kam Maria.“
Der Mann blickte versonnen in die Leere, ein strahlendes Lächeln zierte seine Züge, präsentierte dabei leicht gelblich gewordene, aber immer noch gut erhaltene Zähne. Es machte ihn gleich etwas sympathischer. Samuel wartete ab, bis sein Gast von selbst weitererzählte. Das funktionierte immer besser, als die Leute zu drängen.
Wie immer behielt er Recht.
„Maria war die Frau, die einem nur in der Fantasie begegnet, verstehen Sie? Ihre Haare waren so gefärbt, dass sie einen strahlenden Regenbogen ergaben, ihre Augen hatten jeweils eine andere Farbe. Das eine war blaugrau, das andere braungrün. Sie hatten den tatsächlich den Körper einer Statue, eine braungebrannte Haut, weder zu viel noch zu wenig Fleisch auf den Rippen, schien jeder Ethnie dieser Erde anzugehören und dann wieder nicht, besaß einen Schmollmund, einen wachen Verstand, eine Stimme tief, angenehm fast rauchig und war Individualistin durch und durch. Aber nicht auf die Art, wie ich den Individualismus auslebte, sondern die Sorte, von der die Menschen seit Anbeginn der Welt träumen. Was sie auch berührte, sie schien es zu meistern.
Sie konnte zwölf Sprachen sprechen, zwei sogar mit Akzent, spielte fünf Instrumente, war eine begabte Malerin, Sängerin und sogar Dichterin, engagierte sich für den Tierschutz, die Menschen- und Frauenrechte, war nach ihrer eigener Beschreibung bisexuell und schien alles und jedem auf diesem Planeten zu lieben. Außerdem war sie zwar für freie sexuelle Entfaltung, aber sie gab sich keusch, mit der Begründung, dass jedes Mal wenn sie Liebe machen wollte, der Moment, die Stellung, kurz gesagt alles perfekt sein musste, denn das Leben war schön, warum sich also mit schlechten oder durchschnittlichen Erfahrungen zufrieden geben, wenn alles PERFEKT sein konnte? Ehrlich gesagt, machte dieser geistige Keuschheitsgürtel sie nur noch schärfer, verstehen Sie, denn in der Fantasie kann man alles noch einmal hochpushen. Ich meine, wie gut musste der Sex denn am Ende sein, wenn sie schlussendlich alle Hemmungen fallen ließ und ausgehungert über mich herfallen würde?

Sorry.“
„Schon gut.“
Vielleicht hätte Samuel doch Priester werden sollen. Der Mann nahm einen großen Schluck, diesmal aus dem Wasserglas.
„Auf jeden Fall machte sie all das für mich begehrenswert, vor allem der Teil mit dem Sex. Sie war etwas Unerreichbares, Herrliches, Perfektes. Kurz gesagt die Trophäe schlechthin, auf die man hinarbeiten konnte. Natürlich habe ich damals anders gedacht, aber am Ende war es doch nichts anderes. Sie war mein Preis, das Ziel dessen ich mich als würdig erweisen konnte, um zu beweisen, dass ich der Platzhirsch war, der echte Kerl, der sich mit ihr paarte und sie vielleicht sogar endgültig von ihren bisexuellen Neigungen heilen wird. Merken sie worauf es hinausläuft? ICH! ICH! ICH! Das war alles woran ich dachte, selbst wenn ich doch angeblich verliebt war. ICH! ICH! und noch mal ICH!, ohne dass ich groß mit ihr gesprochen oder auch nur einen Fliegenschiss auf ihre Interessen gegeben hätte. Dann lernte ich sie kennen und plötzlich war alles wie in einem dieser Liebesromane. Soll ich Ihnen sagen, was ich glaube, was diese Dinger so beliebt macht, zumindest die Sorte, die ich gelesen habe?“
„Na?“
„Weil die Passivität der Hauptfiguren dafür sorgt, dass das sogenannte Love-Interest sich plötzlich für sie interessiert, obwohl sie nur herumsitzen, sich selber leidtun oder nicht einmal an der Arbeit mit irgendjemanden interagieren. Sie tun nichts, absolut nichts und plötzlich kommt der fleischgewordene Traum daher, redet mit einem und sagt wie interessant oder toll man ist, selbst wenn einem der Spinat noch an der Backe klebt. Und dann ist es plötzlich da, das neue Leben voller Abenteuer, Spaß und Leidenschaft, ohne dass man einen Finger krumm machen musste und natürlich hat der neue Partner nur Augen für einen selbst, weil man so wundervoll ist, selbst wenn man ihn oder sie wie Dreck behandelt. Er oder sie vergibt einem, schließlich ist man die große Liebe dieser Person und das wird sich nie ändern.
Nie.
Im Grunde ist es nur die passive Methode, von dem was ich zuerst beschrieben habe, oder?“
„Wenn Sie meinen, Sir.“
„Ja, das meine ich, denn es lässt den wichtigen Teil aus, nämlich dass man nicht nur nimmt, sondern auch gibt. Maria wusste das zu ändern, indem sie einfach sie selbst war. Wie gesagt, sie liebte alle, setzte sich für alle ein, die Konservativen, die Liberalen und die Unentschlossenen, glaubte daran, dass alle Religion richtig lagen, während sie aber auch die Möglichkeit einräumte, dass das alles nur Mist sein konnte, aber was machte das schon? Es gab Menschen einen Sinn und Zweck und solange es dazu führte, dass sie einander liebten, wozu sollte man diese von ihrer Religion vermittelten Werte in den Dreck ziehen? Und wenn sie nicht gerade die Flügel von kleinen Vögeln richtete, in Chören sang, für wohltätige Zwecke sammelte, behinderten Kindern vorlas oder ihr Schaffen als Künstlerin verfeinerte, spendete sie große Teile ihres Vermögens an wohltätige Zwecke. Sie war übrigens sehr reich. Sehr altes Geld und wie sie mit Stolz verkündete, befand sich nicht ein einziger Sklaven- oder Waffenhändler in ihrer Ahnengalerie, wobei sie dann natürlich noch gegen die Ausbeutung der Konzerne protestierte. Später habe ich mich gefragt, wo sich unter all dem Aktivismus ihre Persönlichkeit verbarg, aber damals war mir das Ganze recht unwichtig, denn sie inspirierte mich. Sie war Jean d'Arc, das Ebenbild ihrer Namensgeberin und hier und da konnte ich ihr sogar ein paar Züge von Miss Rand dazudichten, die ich zu jenem Zeitpunkt noch lange nicht als die schreckliche Person abstempeln wollte, die sie wohl war. Ein paar gute Punkte hatte sie aber, daran glaube ich heute noch.
Wo war ich?“
„Maria war perfekt.“
„Richtig! Das war sie. Und ich wollte mich ihrer als würdig erweisen, diesmal nicht um sie zu besitzen, sondern um zu zeigen, dass ich ihrer Liebe würdig war, dass ich ebenfalls der perfekte Partner sein konnte, den ich in ihr sah. Hmm, technisch gesehen war das wohl schon wieder nichts anderes, als das was ich weiter oben beschrieben habe oder? Scheinbar neige ich wirklich zu Wiederholungen.“
„Das müssen Sie wissen, Sir.“
„Hmm. Jedenfalls habe ich jedes ihrer Worte aufgesogen, versucht jeden Teil ihrer Philosophie zu assimilieren und jedes Mal wenn sie sagte „nein, nicht jetzt“ oder „heute nicht“, meinte ich, dass es an mir gelegen haben musste. Jeder Kuss, jedes Lächeln war ein Beweis dafür, auf dem richtigen Weg zu sein. Ich musste nur härter an mir arbeiten, weitermachen, selbst wenn ich den Teil mit den Religionen für Mumpitz hielt, aber wenn, war ich es doch, der falsch lag, nicht sie.
Wir hatten übrigens nie Sex. Nicht einmal in zwei Jahren, in denen wir zusammenlebten, ich sie anhimmelte und ihr jeden Tag sagte, wie sehr ich sie liebte.
Sie hat mir nicht einmal darauf reagiert, nicht direkt, aber das war schon in Ordnung. Ich war glücklich, in der Scheinwelt die ich errichtet hatte, durchlebte alles intensiv und ekstatisch, fühlte mich so lebendig wie noch nie. Tja und wieder das Ich. Maria schien es aber auch nicht zu stören. Vielleicht hätte sie eine zu intime Beziehung auch nur verängstigt, denn wie gesagt, man hatte viel davon gesehen, was sie tat und sie sagte gerne was sie dachte, aber fühlen … fühlen war noch einmal was anderes, glaube ich heute.
Jedenfalls sprachen wir nicht viel über uns oder was wir einander vom anderen erwarteten. Vieles drehte sich darum, dass die Welt Mist und sowieso schlecht war und dass man sie retten musste und Maria war die richtige Person dafür, um dies in die Tat umzusetzen.
Das war wohl einer der Gründe, warum sie dann zu Weihnachten nicht da war. Besser gesagt, sie hatte alles aus ihren Schränken genommen und war dann mit einem neo-marxistischen „Freund“ von ihr abgehauen, mit dem sie wohl die Revolution in die Tat umsetzen wollte.
Sie hatte zumindest eine Nachricht hinterlassen. Ich sei ein netter Kerl, irgendwann würde ich jemanden sehr glücklich machen, jadaa jadaa. Am Ende war ich für ein ganzes Jahr am Boden zerstört und wieder zu meinen alten Gewohnheiten übergangen. Doch mit der Zeit begann ich über das alles nachzudenken und mir wurde bewusst, was ich am Ende alles gelernt hatte, über mich, über andere, was sage ich über das ganze Leben! Sicher, letztendlich war das alles nichts Echtes gewesen, aber machte das meine Erkenntnisse und meine Veränderungen, weniger wertvoll? Ich glaube nicht, nein.
Die Zeit mit Maria hatte mich verändert, zum Besseren wie ich finde. Mit der Zeit habe ich diese Veränderungen um meiner selbst willen akzeptiert, mich am Ende mehr geliebt, als jemals zuvor. Vielleicht werde ich eines Tages sogar in der Lage zu sein, jemanden so zu lieben wie es uns die Medien vorgaukeln oder Paare scheinbar vormachen. Vielleicht nicht so perfekt wie in meiner Vorstellung, aber zumindest ehrlich und mit allem was in mir steckt.
Vielleicht reicht das am Ende ja aus … und wenn nicht, ist das auch nicht schlimm. Das Leben ist genauso schön, wie es manchmal zum kotzen ist und ich bin gespannt, was noch so auf mich zukommt. Auf jeden Fall habe ich durch Maria gelernt, es besser zu genießen.
Und damit höre ich endlich auf, Ihnen ein Ohr abzukauen.“
„Och, machen Sie sich nichts draus. Heute ist eh nicht viel los und es ist nett sich ein bisschen zu unterhalten.“
„Hmm. Auf jeden Fall danke für Ihre Geduld. Sie waren ein Engel. Hier.“
„Das kann ich nicht annehmen …“
„Nehmen Sie den Schein schon! Ich habe genug von denen, da kann ich auch ausnahmsweise mal zu jemanden nett sein.“
„Nun ja … danke.“
„Nichts zu danken. Und hier ist auch das Geld für die Rechnung. Ich muss dann mal wieder. Ach ja, ich sehe Ihnen an, dass Sie noch wissen wollen was aus Maria geworden ist. Sie hat ihre eigene Kirche gegründet, die Frieden auf Erden zwischen allen Religionen predigt und nach einenden Gemeinsamkeiten für die perfekte Weltreligion sucht. Sie wird von ihren Mitgliedern als Prophetin und lebende Heilige angebetet, aber natürlich ist sie zu bescheiden, um sich das alles zu Kopf steigen zu lassen.“
„Natürlich.“
„Na ja, machen Sie es gut. Frohe Weihnachten und ein glückliches, neues Jahr.“
„Ihnen auch, Sir. Passen Sie auf sich auf, da draußen ist es glatt.“
„Werde ich. Wiedersehen.“
„Wiedersehen.“
Und schon im nächsten Moment war er verschwunden. Samuel betrachtete den hundert Dollar Schein, den ihm der Mann in die Hand gedrückt und war ebenso damit beschäftigt sich zu überlegen, was er mit dem Geld machen würde, während er weiterhin nicht glauben konnte, doch tatsächlich hundert Dollar Trinkgeld erhalten zu haben!
Er wog ab und entschied sich am Ende dafür, Lars zwei Spiele für seine PS3 zu kaufen und den Rest in Alkohol und Leckereien zu investieren. Sicher, Lars würde zunächst etwas toben, dass Samuel das Geld nicht angelegt hatte, aber am Ende würde die Freude über die schönen Geschenke seine Wut über die Verschwendung überdecken. Denn auch wenn man wohl selbst in Liebesangelegenheiten vernünftig sein sollte, manchmal gehörte es einfach dazu dass man die Chance für etwas Verrücktes nutzte, wenn sie sich einem bot.
Zumindest glaubte Samuel daran und in diesem Fall erwies es sich als eines der schönsten Feste der Liebe, die er und sein Mann jemals verlebt hatten.

*​
Der Mann starb drei Jahre später an mehr als natürlichen Umständen. Eines Tages wachte er einfach nicht auf. Sein gesamtes Geld wurde „Der Freikirche Marias“ vermacht. Ob deren Gründerin sich an den Namen des Spenders erinnerte, als sie ihn in ihre Gebete aufnahm, ist nie überliefert worden.
 

Kraven

Lernender
Registriert
15.03.2004
Beiträge
2.112
Die taugt was.
Du setzt die Parodie gut ein und hältst Frank Miller dabei raus, was angenehm ist :D Der Monolog fühlt sich richtig an, und du bringst die trunkene Melancholie einer Bar zur späten Stunde gut rüber (von der allgemeinen Melancholie um die einsame Weihnachtszeit herum ganz zu schweigen).
Ist gut geworden :)
 

Lisra

Schmusekater
Registriert
06.02.2004
Beiträge
6.392
Tribut

Ein Abstieg hinab ins Dunkel war eigentlich das Letzte was sie bereit war zu tun, aber an diesem Abend hatte sie eine Ausnahme gemacht. Neonlicht ist kein dreckiger Fackelschein oder loderndes Kerosinfeuer und irgendetwas an dem abgewetzten Teppich auf den Betonstufen hatte sie angezogen. Die Stufen, völlig frei von Verfall und Hindernissen, hätte sie auch blind hinabsteigen können. Trotzdem lauerte eine Hand dicht am Geländer. Jede Treppe nach unten versprach, so versuchte ihre Erinnerung ihr immer wieder klarzumachen, ein schlimmeres Spektakel als die Letzte. Diese führte jedoch nicht zu einem weiteren Schaubild menschlicher Barbarei, sondern zu einem rauchverhangenem Raum voller runder Tische. Verschiedene Gestalten sind darüber gebeugt und halten Gläser fest. Andere schauten auf eine kleine Bühne, auf der ein groß gewachsener Mann stand und Gitarre spielte. Die Locken hingen bis an die Ellenbogen und drohten gelegentlich sich zwischen ihn und sein Instrument zu drängeln. Noch immer am Fuß der Treppe betrachtete sie ihn fasziniert. Er hielt die Augen geschlossen und spielte offenbar völlig versunken vor sich hin. Selbst der unmodische Schnurrbart konnte das Bild melancholischer Freude nicht trüben. Auf dem Weg zur Theke traf sie erst, was er eigentlich spielte. Irgendwo versteckt lief ein Band, Schlagzeug, Bass und elektronisches Gezirpe. Er spielte seine Gitarre darüber. Mal ein Ohrenbetäubendes Gewitter aus Verzerrung, mal vorsichtig und sanft. Mit großen Augen und fest umklammertem Glas saß sie nahe der Bühne und schaute zu ihm hoch.
Immer wieder sang er zu seiner Musik. Wobei Gesang dem nicht gerecht wurde. Er schrie, flüsterte, traf Töne glasklar und sank zu einem tiefen, ersterbenden Röcheln. Unsicher huschten ihre Augen hin und her, als sie noch einen Schluck trank. Etwas sonderbares, wundervolles geschah hier. Ging es allen so wie ihr? Die Leute tranken, sprachen leise in kleinen Gruppen oder saßen einsam in der Leere. Was würde sie nur geben, um hinter all die Augenpaare zu sehen. Es konnte nicht nur ihr so gehen, oder?

This poetry our blashphemy know the sounds of infamy

Diese kannte sie gut. Zwischen all den Kerzen und den Überresten vergangener Generationen hatte er sie gepredigt, in seinem Wahn, die anderen aufgehetzt, verroht ? bis von Männern nichts mehr blieb als ein Golem aus rostigem Metall.

I hide the scars from my past

Jedenfalls Alle, die sich verbergen lassen. Manches bleibt für immer sichtbar. Der Barmann hatte auf jeden Fall die Augenbrauen gehoben, als er den Gin servierte. Für einen Moment fragte sie sich, ob er sie vielleicht wiedererkannt hatte, aus dem Fernsehen. Wenn ja, dann hatte er sich nichts anmerken lassen.

Sick liasions made this monumental mark, the sun sets forever…

Während der Zeit im Krankenhaus hatte sie gelernt, wie viel die See von dem obszönen Denkmal auf der Insel übrig gelassen hatte. Die Meute von Reportern, Archäologen und Kriminalbeamten hatte es mit einem Puzzle zu tun, dass sie selbst und die Handvoll anderer Überlebenden kaum helfen wollten zu lösen.
Die Verantwortlichen waren allesamt tot. Die Opfer vergessen. Vergessen. Etwas, das sie und ihre Gefährten nie können werden. Mit der Zeit würden sie vielleicht daran zweifeln, wie viel tatsächlich geschehen war, jetzt wo sich alles unter den Wassern und unter Vulkanasche befand.

All diese Gedanken waberten durch ihren Kopf, während sie dem fremden Musiker zuhörte und sich immer mehr bewusst wurde, dass er sich, nein, dass sich seine Musik in ihr Herz fraß.
Musik hatte ihr ebenso wenig bedeutet wie Ausgehen oder Modeschmuck. Während der Zeit im Internet gab es nur die Ausflüge in Katakomben voller Rauschmittel und donnernder Beats, die sie kälter ließen als Werbung für Lippenstift. Und danach gab es nur die Arbeit, Reisen und die Wanderschaft von antiker Ortschaft zur Fundgrube, zum Monument…
Dies war pures Gefühl.
Umarmung aus dem Innern, Offenbarung durch die Ohren…

Wenn es besonders laut wurde, dann erkannte sie sich wieder, wie sie den verrückten Bruder verfluchte, als seine Lakaien sie von ihren Freunden wegzerrten. Wurde es besonders schnell, treibend, brachte es eine Flut von Erinnerungen an die Jagd, an die Flucht und an das Pochen ihres Herzens, als sie Mal auf Mal ein Leben nehmen musste, um ihr eigenes zu retten.
Dann ließ die Musik wieder nach, kehrte zurück in ein leises, tiefes Tal. Schönere Gedanken. Daran, wie sie es geschafft hatten.

Der Musiker hörte auf zu spielen. Vereinzelt gab es Applaus und sein Lächeln machte deutlich, dass es ihn nicht weiter kümmerte, kaum beachtet worden zu sein, solange irgendjemand ihm zuhörte.

Sie saß da wie vom Donner gerührt. Eine einzige, zufällig getroffene Entscheidung hatte vielleicht mehr für sie getan, als ein Dutzend Sitzungen bei einem gelernten Aufschneider. Konnte sie selbst so werden? War sie musikalisch?

Trau dich, Lara, dachte sie. Mit einem tiefen Zug leerte sie das Glas und stand auf.

„Hey…“, sagte sie, halb überschwänglich, halb zögerlich, sodass es seltsam schief aus ihrem Mund kam. Man muss halt immer wieder Mut haben.





(Wer die 2 Umstände erraten kann, die sich in dieser kleinen Geschichte zusammentaten, bekommt ein STück Kuchen von mir. :D)
 

Zelon Engelherz

Wachritter des Helm
Registriert
20.09.2004
Beiträge
2.112
Merke: wenn du eine Einleitung schreibst, überprüfe sie mindestens noch einmal, sodass du nicht dumm dastehst, weil du aus Versehen die falschen Worte schreibst.
Das heißt Monolog und nicht Prolog, grml.
Und vom Ersteren gibt es in diesem kleinen Text mehr. Ja, es ist ein Sequel zum ersten Text und nein, hiernach kommen nicht noch mehr.
Und wenn doch, werde ich ein anderes Thema nehmen.

Wie auch beim letzten Mal, hat der Text eine Reaktion in mir ausgelöst. Welche, wird glaube ich ganz gut deutlich.

Auf jeden Fall wie immer viel Spaß beim lesen und für's nächste Mal denke ich mir was Neues aus. Mal sehen ob ich was Lustiges abseits von "so blöd, dass man lachen muss" hinbekomme;):D.

---------------------


The wonderful Joseph

Das neue Jahr hatte kaum begonnen, aber Samuel wusste, dass heute wieder eine dieser Nächte sein würde.
Die Zeichen dafür standen einfach zu gut.
Wie während der Feiertage war er wieder alleine, abgesehen von einer Frau am Tresen, die seit einer halben Stunde in ihr halbvolles Glas schaute.
Ihrem Gesichtsausdruck zu schließen, war es wohl eher halbleer.
Sie leerte es in einem Zug und schob es Samuel zu.
„Noch einen.“
„Wie wäre es mit einem Glas Wasser? Dann können Sie den Alkohol auf sich einwirken lassen.“
„Hmm. Von mir aus.“
Sie faltete die Hände auf dem Tresen und ließ ihr Kinn darauf ruhen und kniff die Augen zusammen, scheinbar versucht etwas Bestimmtes zu erfassen.
Sie hielt es eine Weile aus, dann legte sie auch schon los.
„Wissen Sie welche Lügen mich immer am meisten ankotzten? Einerseits die, die sagt, dass man nehmen muss was man kriegt, denn irgendwann will niemand einen mehr und die andere, dass irgendwann, wenn man nur lange genug sucht und durchhält, ER dann irgendwann auftaucht. Sie wissen schon, der Märchenprinz. Jenes perfekte Exemplar Mensch, welches immer treu und lieb ist, mich auf Rosen bettet, nicht stinkt, nie furzt, keinen Bierbauch bekommt und auch beim na-Sie-wissen-schon nie schlappmacht.
Denn im Grunde ist es dieselbe Gedankenfalle, nur schlauer getarnt. Weil man wartet und wartet und wartet und wartet und irgendwann stellt man fest, dass er nicht kommt. Das frustriert erst mal. Dann schaut man sich um und straft all diese anderen Kreaturen mit Abscheu und Verachtung, aber irgendwann hat man dann folgende Idee: was, wenn jede dieser Pfeifen das Potenzial zum Prinzen besitzt und es schlichtweg nur geweckt und gefördert werden muss?
Vielleicht ist er ja nur deswegen übelriechend und faul, weil er nie die richtige Person, mich, getroffen hat, die ihn auf den richtigen Pfad führt und von all seinen Fehlern heilt?
Immerhin sind Frauen ja nachweislich schlauer und besser, warum es also nicht versuchen?
Dann macht man es und wird technisch gesehen zu deren Mutter, nur dass sie dann auch noch Sex wollen. Ödipus hätte seine wahre Freude dran gehabt, da bin ich mir sicher.
Danke.“
Sie nahm den Whisky entgegen und nippte nur kurz dran. Sie wirkte jetzt noch trauriger.
„Aber was soll man denn sonst machen? Warum soll man seine Ansprüche runterschrauben? Damit die Kerle es leichter haben und nie merken was für teilweise erbärmliche Gestalten sie doch sind? Weil die Welt ein Haufen Scheiße ist und man so wenigstens nicht alleine lebt? Kann ich drauf verzichten, vor allem, da ich auch keine Kinder möchte.
Kinder und alte Leute, in meinen Augen sind sie dasselbe.
Beide sind nutzlos und machen mehr Dreck als sie wert sind.
Die einen erinnern dich daran, dass die Gegenwart jetzt schon scheiße ist, weil sie es versaut haben und die anderen machen dir klar, dass es noch schlimmer wird, weil sie irgendwann alles zusammenhalten sollen. Natürlich haben sie keinen Plan wie das gehen soll, weil sie schon dumm auf die Welt kamen und auch über die Jahre hinweg dumm bleiben. Wenn ich daran denke, dass mein Neffe, das fette Schwein, irgendwann mal was anderes machen will als im Net nach Pornos zu suchen oder an seiner Xbox rumzuspielen, kriege ich das Grausen.
Und dass ich all das gesagt habe, macht mich jetzt zu einem schlechten Menschen, nicht wahr?“
Samuel antwortete nicht. Sie schnaubte.
„Dachte ich mir schon. Ich stehe dazu, ich habe da keine großen Meinungen oder Illusionen, aber soll ich Ihnen was sagen? Ich möchte auch geliebt werden und tue es im Gegenzug … zumindest habe ich das immer geglaubt.
Die anderen waren nur nie gut genug für mich, das habe ich mir immer gesagt.
Und irgendwann traf ich Peter.
Er war nicht der versprochene Märchenprinz, ganz im Gegenteil. Er war übergewichtig, verwöhnt von seinen Eltern, räumte nicht auf, ließ sich bekochen und sah es nicht ein, zumindest mal die Wäsche zu waschen. Im Bett war eh tote Hose, weil ihm keiner erklärt hatte, dass Pornos nicht das wahre Leben widerspiegeln. Ich habe ihn regelrecht zusammengepfiffen und für ihn die Mutter gespielt, die er nie hatte, womit wir also wieder ganz am Anfang stehen.
Standards runtergesetzt, in der Sackgasse gelandet, hurra.
Aber ich muss sagen … an die Standards hatte ich gar nicht gedacht, als ich ihn kennenlernte. Und von seiner Faulheit und seinen Vaterkomplexen abgesehen, gab er sich wirklich Mühe, zeigte hier eine kleine Geste, da ein Geschenk und auch der Sex war nachher in Ordnung. Und ich hatte mich auch verändert, denn ich habe ja meine Fehler, ich gebe es doch zu.
Vielleicht geht es ja in einer Beziehung auch darum, aufeinander zuzugehen, dem anderen zuzuhören, über das eigene Verhalten zu reflektieren, etwas Neues zu versuchen, als Person zu wachsen. Vielleicht finden wir so wahre Liebe, die eine Beziehung die über die Jahrzehnte hinweg andauert … oder weil man im Laufe der Jahre lernt sich aus dem Weg zu gehen und in seinen Hobbies versinkt, während man sich die Miete teilt. Hat bei meinen Eltern ja auch funktioniert.
Jedenfalls war es schön, egal ob das von den Hormonen kam oder weil es doch mehr gibt.
Wir passten auch gut zueinander, Peter hasste Kinder noch mehr als ich und für seinen Opa hatte er auch nicht mehr als Verachtung übrig. Die Lehre wäre dann wohl gewesen, dass auch Egoisten ihr Glück finden können, wenn da nicht Joseph gekommen wäre.
Joseph war oder ist, das männliche Model aus dem Unterwäschekatalog.
Und ich meine das so, wie ich es sage.
Er ist der Standard, an dem sich alle messen müssen.
Er ist reich, hat einen kleinen Drei-Tage-Bart und ist abgesehen von dem auf seinem Kopf völlig haarfrei. Kein Gram Fett ist an ihm zu finden und er hatte sich ausgerechnet in mich verliebt.
Zumindest behauptete er das. Aber es ging runter wie Öl und die Aussicht auf all die bisher unerlebten Abenteuer und den teuren Kram dazu war doch zu attraktiv, als dass ich es mir entgehen lassen konnte. Natürlich brach ich Peter damit das Herz, aber wir hatten uns eh gestritten, da erschien mir das vollkommen legitim, verantwortungsvolle Erwachsene die ich war.
Und als ich dann an Josephs Yacht ankam, wusste ich, dass es das war, mein Märchenschloss nebst Prinz. Jede Nacht war ein Erlebnis, alle meine Wünsche wurden mir erfüllt und Joseph selbst wurde nie müde sich nach meinem Befinden zu erkunden, während ich mich zurücklehnte und in gemütlicher Passivität versank. Ich war perfekt und am Ende meines Weges angekommen, was hätte ich da noch groß tun müssen?
Ich glaube, davon träumen alle Menschen irgendwann einmal, dass sie an den Punkt gelangen, wo alles, was sie tun nur Bewunderung einbringt.
Nichts tun und trotzdem geliebt werden.
Man kombiniere das noch mit ewiger Jugend und man kann bestimmt eine ganze Reihe von Büchern draus machen.
Aber irgendwann erwacht man aus diesem Traum. In meinem Fall nicht etwa, weil ich plötzlich wusste, dass ich Peter und nur Peter liebte und solch eine Närrin war … noch einen.“
Samuel schob wortlos nach. Das Glas war keine zwei Sekunden später leer.
„Nein, das würde bedeuten, dass das Leben eine einzige moralische Erzählung ist und wir uns alle am Ende positiv verändern oder einfach erwachsen werden. Natürlich tun die Meisten das nicht, ansonsten würde niemand in der Unterhaltungsindustrie reich werden und wir bräuchten die ganzen Lügen aus dem Playboy oder diesen Lifestylemagazinen nicht. Vielleicht wären wir dann glücklicher und es gäbe weniger von uns, weil wir dann wüssten, dass Kinder nichts besser machen. Bestimmt gäbe es dann den Beruf Psychologe auch nicht.
Und erst recht keine Pornos, aber die fallen ja auch unter Unterhaltung.“
Sie runzelte nachdenklich die Stirn.
„Wo war ich noch mal stehen geblieben?“
„Der Traum war zu Ende.“
„Ah ja, richtig. Es hat sich einfach alles miteinander abgenutzt. Ich merkte mit der Zeit, dass nichts an Joseph echt war. Das ganze Training, die Freundlichkeiten gegenüber mir und der Welt, die großzügigen Spenden, sie alle bewirkten nichts, füllten das Loch in seinem Inneren nicht aus. Je mehr man sich mit ihm beschäftigte, desto mehr merkte man, dass sich hinter alldem nur eine Scheinpersona verbarg, extra dafür kreiert, damit der Rest der Welt nur staunend danebenstand. Ich war sozusagen das I-Tüpfelchen, denn wie verliebt musste Joseph schon sein, um eine giftigte, alte Harpyie wie mich zu lieben? Das machte ihn doch gleich automatisch zum besseren Menschen!
Und darum ging es letztendlich, in den Augen der anderen ein guter Mensch zu sein, damit das Leben endlich einen Sinn bekam. Denn einfach nur den Reichtum zu genießen, das war ja böse, sagten die anderen. Vor allem war es sinnentleert und hohl, aber ihn wegzugeben kam auch nicht infrage, was ich ja verstehen kann. Wenn man einmal von ganz oben auf alle da unten blickte, gibt es wenig, was das zu übertreffen vermag.
Wie gesagt, ich sah ihn nun als das kleine Würstchen, das er war und hätte ich mehr Mitleid besessen, wäre ich wahrscheinlich bei ihm geblieben. Aber da war nichts, der Traum war ausgeträumt und Joseph anzuschauen war schlimmer als jeder Blick in den Spiegel.
Also habe ich ihn verlassen, natürlich mit einer saftigen Abfindung, die er mir regelrecht aufdrückte, damit er immer noch als der Gute von uns beiden dastand. Mir war es recht, so muss ich mein Lebtag nicht mehr arbeiten, aber regelmäßige Aliemente hätte sogar ich abgelehnt.
Tja … und hier bin ich. Alleine und bar jeglicher Illusionen darüber wer ich bin.
Aber es ist okay. Zumindest eine Erkenntnis hat mir das Ganze eingebracht: nichts ist es wert, dass man sich aufgibt, selbst wenn es da nicht viel zum Aufgeben gibt. Am Ende sind wir, wer wir sind und manchmal reicht das auch, weil die Leute glauben, dass sie damit leben können, etwas in dir sehen, was du nicht bist oder fest daran glauben, dich ändern zu können, was viel über uns als Spezies aussagt.
Die Realität ist ein deprimierendes Jammertal und wir müssen damit klarkommen und glauben, dass es zusammen leichter ist. Ist es nicht. Wir streiten uns nur so heftig, dass es uns von der Welt da draußen ablenkt. Hmm, wenn man es so sieht, ist das sogar positiv, oder nicht?
Na ja, ich bin ich und werde versuchen mir treu zu bleiben.
Mehr kann ich nicht verlangen, denke ich. Und jetzt bestell ich mir ein Taxi. Schieben Sie mir bis dahin noch einen Drink zu.“
Samuel tat es. Die Frau trank das Glas und fünf weitere in gierigen Schlücken aus, bis sie dann noch das Wunder vollbrachte, gerade stehend nach draußen zu torkeln. Samuel war so deprimiert, dass er den Rest des Wochenendes damit verbrachte, sich regelrecht an Lars zu klammern. Dieser wunderte sich zwar, sagte aber nichts.
Über mache Sachen sprach man einfach nicht und war einfach für den anderen da.

*​
Die Frau und Peter waren zwei Monate später wieder zusammen.
Drei Monate darauf heirateten sie.
Ihre Ehe war ein Desaster, was vielleicht auch an den mangelnden Raum lag, in dem beide ihren Hobbies nachgehen konnten.
Niemand sprach darüber, aber alle wussten, dass sie ihre beiden Kinder nur in die Welt setzten, weil sie hofften, damit ihre Ehe retten zu können. Dementsprechend entwickelten sich die Sprösslinge ihrer Lenden auch, aber ob sie am Ende ganz den vorgelebten Weg ihrer Eltern weiter verfolgten oder am Ende sogar noch tiefer versanken, wird an dieser Stelle einmal offengelassen.
Für die Frau war all dies letztendlich nur ein kleiner Moment der Schwäche gewesen und sie verbrachte den Rest ihrer Tage alleine.
Die Chancen standen nicht schlecht, dass sie das Leben alleine glücklicher machte als alle Jahre mit Peter und Joseph zusammen.
 

Zelon Engelherz

Wachritter des Helm
Registriert
20.09.2004
Beiträge
2.112
Wie gesagt, eigentlich wollte ich ja nichts mehr zu dem Thema schreiben, vor allem da der zweite Text ja Murks war. Dann fand ich diesen Blog hab mich mal durch die Beiträge der Verfasserin gelesen und plötzlich hatte ich eine Idee, kombiniert mit dem was das echte Leben so bietet.

Das passiert bei mir ganz selten, aber jetzt steht der Text und ich schwöre hoch und heilig, dass Samuel beim nächsten Mal WIRKLICH was anderes zu hören bekommt als Liebeskummer, denn spätestens jetzt ist das Thema ausgelutscht;).

Hoffentlich kann man mein Geschreibsel trotzdem lesen. Für Rechtschreibfehler entschuldige ich mich wie immer, aber meine gute Rechtschreibfee hat immer noch frei.

------------------------------------------------------


Die beiden Typen

Auch dieses Mal hatte Samuel nicht viel zu tun.
Glücklicherweise war dies nicht so oft der Fall, wie es die Zeilen dieses Textes suggerieren würden.
Leider hatte er diesmal aber auch niemanden, der ihm etwas erzählte. Stattdessen musste er mit halben Ohr und einer sehr abwesenden Miene den beiden Männern zuhören, die es fertig brachten sehr tief in ihre Gläser zu schauen, während sie das Gespräch konstant aufrechterhielten.
„Wie lange ist es jetzt nun her, dass du was von ihr gehört hast?“, fragte der Dünnere der beiden.
„Zwei Jahre“, brummte der Kleinere in sein Kinnbärtchen, welches ihn ehrlich gesagt nicht so gut stand. Zumindest auf Samuel wirkte er nicht wirklich wie der Typ, der mit der Zeit ging.
„Zwei Jahre.“
„Zwei Jahre.“
„Zwei Jahre“, der Dünne schüttelte den Kopf und nippte am Glas.
„Wäre es nichtmal Zeit sich mal wieder, na ja, umzuschauen?“
„Vielleicht.“
„Aber?“
Der Bärtige seufzte und schien noch etwas kleiner zu werden.
„Na ja, weißt du wer mir letztens begegnet ist?“
„Nee.“
„Sie.“
„Wer?“
„Na, SIE.“
„Du kannst es noch so dramatisch betonen, wenn du mir nicht sagst wen du meinst, kann ich dir nicht helfen.“
„Hmm“, der Bärtige zog seine Unterlippe nach hinten, schien abzuwägen, seufzte dann dramatisch.
„Das Mädchen, in das ich damals in der Schule so verknallt war.“
„Welche von denen?“
„Arschloch. Die, der ich damals die Blumen gekauft habe, um sie um ein Date zu fragen.“
„Oooh. Die.“
„Ja.“
„Wie ist das denn zustande gekommen?“
„Purer Zufall. Sie ist jetzt Chefin ihrer eigenen Firma und ich wollte ihr ein bisschen was von unseren Alarmanlagen verkaufen. Wir haben uns erkannt und dann war ihr wohl langweilig und nach der Arbeit traffe wir uns dann zum essen. Tja. Was soll ich sagen, irgendwann kamen die alten Geschichten dann doch wieder hoch und ich weiß wie dumm das ist, aber ein Teil von mir hatte gehofft … hatte gehofft, dass sie sowas sagt wie …“
„Es tut mir leid, du warst der netteste Junge den ich je kennengelernt habe und ich hätte den Trottel fallen lassen sollen?“
„So in der Richtung, ja.“
„Hmm. Was ist wirklich passiert?“
„Na ja. Sie hat mir erzählt, dass der Strauß ja nett war, aber irgendwie auch unheimlich und … und sie meinte halt, dass ich einfach ein Arsch gewesen sei.“
„Hmm.“
„Was hmm?“
„Na ja-“
„Versteh schon. Warum hängen wir dann immer noch zusammen rum?“
„Das weißt du doch.“
„Tzz … ja,“
„Ich nehme an, sie war schon dementsprechend voll?“
„Ja, war sie. Sie wollte wohl auch etwas in Nostalgie schwelgen, weil es bei ihr auch gerade etwas mau aussah. Sie hat sich auch gleich für die Bemerkung entschuldigt. Heute sieht sie ja auch, dass er ein Kiffer war, aber sie liebte ihn nunmal zu dieser Zeit und er sie ja auch, selbst wenn es für beide ungesunde Folgen hatte. Sie liebten sich.“
Er seufzte wieder. Der Dünne schien zu überlegen seinen Freund die Hand auf die Schulter zu legen, ließ es aber. Er hatte bestimmt seine Gründe.
„Und sie sah auch heute für euch keine Zukunft?“
„Nein. Sie sagte, so viele Fehler er auch hatte, ich war keineswegs die bessere Alternative und man kann es halt nicht kontrollieren oder? Sie hatte halt das Gefühl, dass ich etwas wie eine Trophäe einen Preis wollte. Racker dir den Hintern wund, überschütte sie mit Geschenken, sage ihr wie schön sie ist und gewinne ihre unsterbliche Liebe. Spiel gewonnen, lebe glücklich bis zum Ende aller Tage. Ich glaube heute nennt man das Dating-Sim. Hab sowas mal angefangen, aber nach kurzer Zeit keine Lust mehr gehabt. Trotzdem, so ungefähr kam es ihr vor und ja, sie hatte wohl recht. Ich meine, wie sollte es denn sonst funktionieren, frage ich dich? Wie sollte man denn sonst ihre Aufmerksamkeit erhalten? Warten bis sie einen anspricht, hoffen dass sie dich schon bemerken wird?“
„Nett fragen und schauen was passiert, hilft doch.“
„Aber selbst dann könnte sie immer noch nein sagen und ich, ich … ich wollte sie doch haben … verdammt.“
Der Bärtige leerte das Glas und schnipste Samuel hektisch herbei.
„Noch einen! Machen Sie's bis zum Anschlag voll!“
Samuel nickte. Als er sich umdrehte, konnte er noch aus den Augenwinkeln sehen, wie der Mann die Hände über den Kopf schlug.
„Verdammt. Was ist bloß falsch mit mir?“
Sein Freund antwortete nicht.
„Ist das der Grund, warum das mit keiner was geworden ist? Merken die Frauen das? Bin ich so widerwärtig?“
Der Andere blieb weiterhin stumm. Sein Freund schluchzte nicht, zog aber die Nase hoch.
„Ich versuch doch wirklich ein guter Mensch zu sein, ich versuche es wirklich. Und ich möchte ja auch respektvoll und freundlich und zärtlich und der ganze Mist sein, aber wozu ist der ganze Kram denn gut, wenn es am Ende niemand zu schätzen weiß?“
„Na ja, du könntest es doch selbst zu schätzen wissen oder? Starke Ideale und so.“
„Pfeif auf die Ideale … Dreck. An mir ist nichts liebenswert oder?“
„Selbstmitleid findet auch niemand sexy.“
„Ach sei doch still! Lass mir zumindest das … ich möchte einfach nicht alleine sein. Ich möchte nicht eines Tages in meiner Wohnung sitzen, wegen eines Herzkaspers draufgehen und dann findet man mich erst einen Monat später weil ich die Miete nicht bezahlt habe oder die Nachbarn sich über den Gestank beschweren. Ich will zumindest, dass mich eine Person wirklich liebt, bewundert und mich großartig findet, egal wie viele Fehler ich habe. Aber dann meldet sich eine Stimme in meinen Hinterkopf, dass das auch nicht echt ist und erst recht nicht gesund. Ich sage mir „ja und? Es fühlt sich gut an!“, aber so richtig verstummen lässt sich die Stimme dann nicht und sie macht alles kaputt, was ich mir in Gedanken zurechtgelegt habe.“
„Abhängigkeit ist halt Mist“, erwiderte der Dünne, dessen Miene sich langsam immer mehr dem Gespräch angepasst zu haben schien.
„Mag sein“, räumte der andere ein, „aber wie soll man denn am Ende sonst jemanden finden? Vor allem, damit sie einen nicht verlassen.“
„Weiß nicht, ob das so schlimm wäre. Ich meine, erinnerst du dich noch an meine Großeltern?“
„Oh ja. Tut mir übrigens immer noch leid mit den beiden.“
„Muss es dir nicht. Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser für sie war. Denn schon als ich klein war, haben sie nicht viel miteinander gesprochen. Mit mir, ja, aber nicht miteinander. Und wenn, drehte es sich hauptsächlich um den Tod. Der ist gestorben, die brauch ein neues Herz, oh wird Person Y die Verletzung überleben? Gibt nichts Morbideres als alte Frauen beim Kaffeekränzchen. Ich meine, anstatt sich aneinander zu freuen oder zumindest in Erinnerungen zu schwelgen, schauen sie nur auf die anderen und warten bis sie tot sind. Zumindest hätte man meinen können, dass sie mal die Fotos von ihren Urlauben betrachten. Ist vielleicht auch ein Generationsding. Ich meine, bei uns muss es die große Liebe sein, Leidenschaft bis in alle Ewigkeit und wir werden nie so langweilige Sesselbesetzer wie unsere Großeltern werden, oh nein. Aber vielleicht unterschätzt man das immer, dass man am Ende nicht mehr interessant für den anderen ist und dann hält man sich an das Bekannte, Verlässliche. Ich mag den Partner zwar nicht mehr ansehen wollen, aber ohne mich verliert er oder sie seinen einzigen Gesprächspartner, wo doch unsere Freunde schon tot sind. Oder ihm zuliebe schottet man sich vom Rest der Welt ebenfalls ab, damit er oder sie nicht alleine ist, während man schon gerne mehr sehen würde. Ist schließlich die Pflicht eines guten Ehepartners loyal bis zum Ende zu sein. Deswegen geben tote Partner auch so gute Liebschaften ab. Man kann sie idealisieren, ausgehen und sie geben keine Widerworte.“
„Alter, jetzt wirst du aber morbide.“
„Tschuldigung.“
„Hat es was mit ihr zu tun?“
„N'bisschen.“
„Erzähl.“
Der Dünne schwieg. Sein Freund gab nicht nach.
„Du hast schon damit angefangen, jetzt kannst du auch weitermachen.“
Diesmal war es anderen zu seufzen, ehe er seinen Teil des Monologs fortsetzte.
„Weißt du, ich muss immer wieder an einen Traum von mir denken. Der Inhalt ist so gut wie irrelevant, aber das Wichtige ist, dass ich in diesem Traum glücklich bin. Wirklich glücklich. Und weil ich glücklich bin, wird mir bewusst dass ich träume und dann wache ich auf. So ähnlich geht es mir mit ihr. Ich warte darauf aufzuwachen und habe sehr viel Angst davor. Ich meine, ich war nicht unglücklich, bevor ich sie traf. Mein Leben war normal, jeder Tag derselbe und beim Filmabend hatte ich einen kleinen Schub Freude und freute mich wie jeder andere auf die nächste Folge meiner aktuellen Lieblingsserie. Es war langweilig, es war stabil, es war okay.
Und dann kommt sie und wirbelt alles auf. Und es ist okay, weil wir uns lieben. Das letzte Wort hat mich einige Überwindung gekostet.“
„Klar. Du kannst ja nichtmal was Nettes sagen.“
„Du mich auch“, sagte der Dünne lächelnd.
„Wie gesagt, es ist okay. Ist ja nicht so, dass sie ein unkontrollierter Wildfang ist, im Gegenteil. Sie weiß genau, wo es mit uns hingeht. Hochzeit, zwei Kinder bevor wir dreißig sind, die Schulen und Kindergärten sind schon ausgesucht, sie liest die richtigen Bücher, ich mach die Babypause, während sie Karriere macht. Guck mich nicht so an. Ich bin Freelancer, bei mir macht das jetzt keinen großen Unterschied und sie verdient eh besser.“
„Wenn du meinst.“
„Meine ich. Wie die Hochzeit stattfindet ist auch schon geplant, die Gästeliste hat sie wahrscheinlich schon im Kopf und mir soll es recht sein, hauptsache sie ist glücklich. Hauptsache, es wird der schönste Tag ihres Lebens. Womit ich wieder zum Ursprung komme: warum muss es denn immer der schönste Tag ihres Lebens sein? Warum lassen wir nicht einfach alles auf uns zukommen?“
„Weil es am Ende wie bei deinen Großeltern enden könnte?“
„Und meinen Eltern, ja.“
„Tja, dann kennst du die Antwort doch schon.“
„Aber was bringt es denn? Letztendlich lässt es sich ja doch nicht ändern oder? Am Ende wachen wir auf und dann ist da nichts mehr, Traumhochzeit hin, Traumhochzeit her, ob mit oder ohne Kinder.“
„Oder du stellst fest, dass das Ganze doch echter ist, als du glaubst.“
„Romantiker.“
„Pessimist.“
Sie stießen an. Der Bärtige zerstörte den Moment.
„Also rätst du mir weniger verzweifelt zu sein?“
„Macht dich letztendlich ja auch nicht glücklich oder?“
„Stimmt schon.“
„Außerdem hast du ja gesehen wie sehr du ihnen Angst einjagst. Am Ende sehen sie nur das. Nicht zu Unrecht. Wir können froh sein, dass es damals noch kein Facebook gab.“
„Oder Twitter.“
„Benutzt man eigentlich noch MySpace?“
„Keine Ahnung. Wusste noch nicht einmal, dass es das gibt.“
„Hab auch nur von gehört. Jedenfalls, sei ganz du … benimm dich einfach, dann wird das schon irgendwann was.“
„Hast ja Recht. Irgendwann bestimmt.“
Sie schwiegen und Samuel wurde Zeuge eines dieser Momente, die man immer in der Kunst einzufangen versuchte, die jedoch nur selten gelangen. Es war wieder am Bärtigen alles kaputtzumachen.
„Ab und an ne Nummer wäre aber schon geil.“
Der Dünne stöhnt lediglich entnervt. Sie mussten wirklich eng befreundet sein.
Kurz darauf hatten sie die Bar verlassen und Samuel fühlte sich unglücklich, da sie ihn das kleine Vergnügen genommen hatten, welches diesen Job selbst an den harten Tagen erträglich machte.
Zum Glück betrat die Frau im Taucheranzug nur wenige Minuten später die Bar. Die Füße in den Flossen steckend watschelte sie zum Tresen, ließ sich auf einen Hocker nieder, setzte die Brille und den Schnorchel ab, was ein Gesicht zum Vorschein brachte, welches glücklicherweise nicht an das Monster aus der schwarzen Lagune erinnerte.
Wenigstens trug sie keine Sauerstoffflasche mit sich.
Der Barkepper nahm sich etwas Zeit, ehe er sie ansprach.
„Harter Tag heute?“
„Sie haben ja keine Ahnung.“
Der Rest der Nacht war dann doch recht interessant.

*​

Die beiden Männer sind bis heute miteinander befreundet. Der Bärtige kam nach einem Besuch im Krankenhaus mit seiner Krankenschwester zusammen. Sie trennten sich nach vier Monaten wieder, aber der Mann war trotzdem nicht unglücklich. Sein Freund heiratete seine Freundin und sie bekamen zweimal hintereinander Zwillinge. Während sie das gesamte Leben der Kinder durchplante, übernahm der Dünne die unwichtigen Dinge, wie kochen und am Sonntag wandern gehen. Insgesamt war das Leben nicht schlecht.
Nach diesem schicksalhaften Abend fand jedes Jahr das große Treffen der Frau im Taucheranzug mit Gleichgesinnten statt. Samuel trug aus Solidarität immer eine Brille und einen Schnorchel, aber er hütete sich davor auch nur einen der Anwesenden auf diese Sache anzusprechen.
 

Zelon Engelherz

Wachritter des Helm
Registriert
20.09.2004
Beiträge
2.112
Ich wollte ja was für Weihnachten schreiben und dann hat mich nach mehreren Ideen die Inspiration gepackt, wenn auch einen Monat früher als angepeilt.

Leider ist der Text dann doch wieder düsterer geworden, aber das macht wohl die Jahreszeit. Trotzdem, viel Freude beim lesen.

------------------------------------------------------------

Der Dünne

Samuel war sich sicher, dass der dünne Mann mit den nikotingelben Fingern Liebeskummer hatte. Menschen wie er schienen sich seit letztes Jahr hier in der Bar zu häufen.
Zunächst betrachtete sein jedoch Gast nur den neu angebrachten Fernsehbildschirm. Es lief eine in den Neunzigern gedrehte Version der Weihnachtsgeschichte. Der Mann schaute eine Weile zu, drückte die Zigarette in seiner Rechten aus und zündete sich eine neue an.
Er murmelte dabei irgendwas, Samuel hätte fast geglaubt, dass es das Wort „Humbug“ war.
„Sie hat diese Geschichte immer geliebt, wissen Sie“, begann er dann nach zwei schnellen Zügen.
„Tatsächlich Sir?“
„Ja. Dickens war mit eine der wenigen Sachen auf die wir uns einigen konnten … Sie haben mich noch nie gesehen oder?“
„Nicht hier, Sir.“
„Hmm, wahrscheinlich auch nie eine meiner Shows besucht? Nein? Auch gut, es ist mal eine erfrischende Abwechslung. Ich verdiene mein Geld ja mit Reden. Leute manipulieren, aber nicht im wirtschaftlichen Sektor. Nicht mehr. Es machte einfach keinen Spaß mehr. Aber Reden konnte ich
schon immer. Tausend Geschichten habe ich erzählt, damit ich nicht zum Doktor musste. Meine Eltern haben mich trotzdem hingeschafft. Wissen Sie, ich habe nicht einmal geredet weil ich wollte, sondern damit die Leute abgelenkt waren, nicht genauer hinschauten, damit ich dieses oder jenes nicht tun musste oder sie nicht merkten, dass sie mir schlichtweg Angst machten. Der Gedanke nicht von ihnen geliebt zu werden war jedoch immer viel schlimmer. Denn wenn Mutter oder Vater dir nicht sagen, dass alles gut ist wie sollst du es denn dann merken? Mir habe ich da nicht vertraut, ich wusste schließlich wer ich war und warum ich etwas sagte. Ich habe es dann mit vielen Aktivitäten ausgeglichen, um nicht über die Welt nachdenken zu müssen.
Hier ein Wettbewerb, dort ein sportliche Veranstaltungen, immer auf Sieg getrimmt, bloß keine Pause einlegen, um nichts infrage zu stellen. Die Anderen liebten und bewunderten mich wegen meiner Leistungen, bestätigten mir dass wirklich alles in Ordnung war, dass ich existierte und ein wertvoller Mensch war. Meine guten Schulnoten taten ihr übriges und mit der Zeit lernte ich auch mit den Leuten zu sprechen. Wie gesagt, ich manipuliere heute Leute für mein Leben.
Irgendwann konnte ich es einfach.
Am Wichtigsten war, dass ich genau vorgeben konnte wie nah mir die Menschen kamen, lernte sie zu kontrollieren, bestimmte wie unsere Beziehung auszusehen hatte. Ich fürchtete mich vor dem Gegenteil, vor allem nach der Sache mit meinem Onkel … er war ein lieber Mensch, verstehen Sie? Aber schwach. Alle haben sie ihn herumgeschubst, alle. Sie sagten es sei sein großes Herz gewesen, aber ich denke heute dass er und ich uns recht ähnlich waren. Er wollte letztendlich auch nur Liebe, aber er hat nie meine Fähigkeiten besessen. So sollte es nicht bei mir enden, nein nicht mit mir, das schwor ich mir. Jedes Mal mit noch mehr Nachdruck, wenn es dann doch geschah. Wie gesagt, Onkelchen und ich waren uns letztendlich sehr ähnlich.“
Er hielt inne, warf dem Bildschirm einen weiteren Blick zu, seufzte.
„Gott, diese Version ist so wunderschön. Wir haben sie uns immer wieder angeschaut, als wir gemeinsam studierten. Sie war das genaue Gegenteil von mir. Oh sie hat ihr Paket mit sich geschleppt, aber sie hatte gelernt sich davon zu distanzieren. Anfang ein bisschen zu sehr. Wir führten unser erstes großes Gespräch, als sie mich Great Expectations lesen sah und diskutierten nächtelang, welcher Roman Dickens der Beste war und oh Wunder, wir mochten sogar dieselbe Musik oder tauschten zumindest Sachen untereinander aus. So fangen irgendwie die meisten Freundschaften in dieser Zeit an oder? Jedenfalls wurde der Tauschhandel fortgesetzt und nach einiger Zeit öffnete sie sich mir. Sie war da nicht die Erste, aber es war eines der wenigen Male welches mich zutiefst berührte. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin durchaus empathisch, aber bei manchen ist es halt mehr als bei den anderen. Dürfte bei anderen Menschen auch nicht anders sein oder?“
„Hmm.“
„Entschuldigen Sie, ich suche schon wieder Bestätigung bei anderen. Nicht gut, das sagt mir auch mein Therapeut. Ja ja … jedenfalls wurden wir also Freunde. Mehr nicht, aber das war schön. Wir zankten uns oft, aber wenn der eine mal eine Woche weg war oder so, fehlte dem anderen einfach was. Mir ging es zumindest so. Wir haben nie darüber gesprochen, aber zu dieser Zeit erschien mir das auch nicht passend. Sie schloss in dieser Zeit auch weitere Freundschaften mit anderen Frauen und verbrachte mit denen immer mehr Zeit, aber das hat mich zunächst nicht gestört. Ich hatte schließlich auch zu tun und war mal wieder verliebt, da ging das schon in Ordnung. Freundschaften entwickeln sich schließlich und jede Beziehung ist anders, das lernt man wenn man die richtigen Leute kennenlernt. Ich fand sogar ihre feste Freundin wirklich liebenswert, freute mich für sie. Alles war in Ordnung. Bis irgendwann … irgendwann ein alter Freund vorbeikam.
Die Eifersucht.
Sie hatte mir meine drei vorangegangenen Beziehungen und alle Freundschaften davor kaputtgemacht und in diesem Fall drohte sie auch diese Beziehung zu vernichten, weil ich es zuließ. Wir stritten uns nun mehr und heftiger. Wie ein kleines Kind klammerte ich mich an sie und warf ihr vor, dass sie den anderen immer mehr den Vorzug gab und mich alleine zurückließ und sogar unsere Filmabende einfach mal so fallen ließ.
Ich war es letztendlich immer noch gewohnt, dass sich alles um mich drehte.
Irgendwann verschränkte sie nur die Arme und fragte mich was ich eigentlich von ihr wollte. Wissen Sie was? Ich hatte keine richtige Antwort darauf. Ich wollte sagen, dass ich unsere gemeinsamen Abende zurückhaben wollte, dass ich mir wünschte dass wir wieder so viel miteinander sprachen wie all die Jahre davor, dass wir wieder zwei Studenten waren, die die Nächte durchmachten und die Welt ausklammerten. Ich wollte, dass sie mir bestätigt dass ich großartig sei, dass sie mich in den Arm nimmt und mir sagt, dass wir immer Freunde sein werden, dass zumindest eine Sache wenigstens konstant bleiben würde …“
Er zog die Nase hoch,fuhr sich über die Augen.
„Geben Sie mir bitte was Starkes. Was richtig Hochprozentiges. Ich werde eine Weile nicht drankommen.“
„Steht eine lange Tour an?“
„Sowas Ähnliches. Ein ziemlich langer Auftritt, könnte man sagen, hehe. Mhm, guter Stoff. Sehr gut. Sie hat Alkohol ja auch nie gemocht. Jedenfalls haben wir nach diesem Streit nicht mehr miteinander gesprochen.“
„Nie wieder?“
„Nein. Nie. Ich wollte zunächst nicht nachgeben und sie dachte da vielleicht ähnlich, aber der Streit hatte einen Effekt: ich fühlte mich innerlich so leer. Oh ich war immer noch erfolgreich, aber nichts davon konnte die Leere in meinem Bauch füllen. Meine Freundin auch nicht, selbst wenn sie noch da gewesen wäre. Der Streit war der letzte Schritt für eine sehr wichtige Erkenntnis gewesen. Ich verstand endlich, dass wir am Ende mit uns alleine leben müssen, selbst wenn wir mit anderen Menschen zusammenleben und dass …“
Am Ende schienen sie alle auf dieselben Gedanken zu kommen, egal welche Menge Alkohol sie zu sich nahmen.
„ … wahres Glück bei einem selbst beginnt. Also startete ich eine Therapie. Auch weil ich mich wieder mit ihr vertragen wollte. Aber nicht gleich. Ich wollte nicht, dass sie mich so sah. So unperfekt. So diesen anderen, viel weltgewandteren Leuten in allen Bereichen unterlegen, die noch sich auch noch verständnisvoll zeigten und so viel weiter zu sein schienen als ich. Ich wollte ihnen also ebenbürtig sein und machte mich aber gleichzeitig damit wieder von ihrer Meinung abhängig. Ich habe Jahre gebraucht, bis ich das endlich verstand. Na ja und bis dahin hatte ich auch drei Therapeuten verbraucht, da erst der Vierte meine Methoden wirklich zu durchschauen begann. Die anderen fanden mich letztendlich auch zu charmant. Noch etwas was ich an ihr so schätzte. Sie war jetzt auch nicht gerade leicht, aber sie nahm mich wie ich bin, obwohl sie meine Methoden kannte … na ja sie und eigentlich jeder Mensch, der mich mal wirklich mochte und denen ich das Herz brach, als ich mich von ihnen abwandte. Davon haben sich nämlich über die Jahre nun doch einige angesammelt, darunter Menschen mit denen ich mich ähnlich tief verbunden fühlte.
Ich kann ihr letztendlich also nichts vorwerfen, was ich nicht all die Jahre zuvor praktiziert habe.“
Er starrte wieder gedankenverloren zum Bildschirm. Gleich würde er sagen, dass er sie nicht verdient hatte.
„Ich habe sie nicht verdient.“
Samuel unterdrückte ein Brummen.
„Verstehen Sie mich nicht falsch, sie war bei weitem keine Heilige, im Gegenteil. Aber sie war da, wenn ich sie brauchte und ich war ihr halt so wichtig, wie es ging. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob meine Anhänglichkeit nicht irgendwann nach der Trennung von einer meiner Freundinnen anfing, denn im Gegensatz zu denen blieb sie mir ja erhalten. Tja, die Zeit verging und ich dachte nicht mehr regelmäßig an sie, auch wegen dem Berufswechsel. Ich wollte ihr immer schreiben oder sie anrufen, aber ich tat es dann doch nicht. Ich würde gerne sagen, dass es die Angst war die mich davon abhielt, aber ich lernte auch neue Menschen kennen, interagierte mit ihnen und das Leben ging weiter. Ab und an dachte ich sogar, dass ich unsere Zeit nur nostalgisch verklärte und dass das mein altes Ich war, das schwache, unzuverlässige Ich und irgendwann musste man ja auch loslassen nicht wahr? Was diese Gedanken angeht, bin ich heute sehr zwiegespalten. Umso mehr, da es jetzt viel zu spät ist, jetzt noch großartig etwas zu ändern.“
„Wie lange ist es denn her?“
„Zehn Jahre.“
„Das ist wirklich eine lange Zeit.“
„Ja und es wäre auch nicht mehr dasselbe, verstehen Sie? Selbst wenn wir wieder miteinander sprechen würden, so wären wir nicht mehr dieselben Leute die sich eins zerstritten, sondern einfach ein paar alte Bekannte, die sich wieder treffen und über alte Zeiten reden.“
„Wäre das denn wirklich so schlimm, Sir? Weil so wie es erzählen, war es damals auch nicht leicht, wenn Sie den Einwand entschuldigen.“
„Da haben Sie vielleicht Recht und sie mir so zu wünschen wie damals, ist wohl auch nicht die feine Art. Und trotzdem vermisse ich sie immer noch, in letzter Zeit wieder mehr denn je. Aber ich glaube nicht, dass sie noch dieselbe Nummer hat.“
„Sie ihre doch auch nicht.“
„Schon … manchmal habe ich mir vorgestellt, dass sie vielleicht Teil des Publikums ist, still immer noch Anteil an meinen Darbietungen hat, aber trotzdem noch zu stolz mit mir zu reden. Selbstsüchtiger geht es wohl-“
Er winkte ab.
„Entschuldigen Sie. Ich mache es schon wieder. Verdammtes fishing for compliments. Ich komme da immer noch nicht aus meiner Haut raus.“
„Schon gut, Sir.“
„Nein, nichts ist gut! Alles ist zum kotzen und ich habe es verbockt! Ich hätte mich melden sollen, hatte all die Jahre Zeit und jetzt ist es zu spät!“
Der dünne Mann brach nun in Tränen aus. Für geschlagene fünfzehn Minuten ergossen sich wahre Ströme aus seinen Augen. Samuel überlegte sich ob er den Mann den Arm auf die Schulter legen sollte, dachte aber über eine eventuelle Ablehnung nach. Am Ende tat er es dann trotzdem. Es schien den Gast tatsächlich zu beruhigen.
„Danke … die Ärzte sagen, dass es behandelbar ist, aber die Statistiken sprechen da eine andere Sprache. Ich wohne wieder bei meinen Eltern, aber es tut so weh sie zu sehen.
Sie sind gute Menschen, denen es immer sehr schwer auf der Seele lastete dass ich 'so schnell erwachsen wurde', aber die mich halt ziehen ließen und die ich einfach für gegeben hingenommen hatte ...
Sie geben ihr Bestes, meine Eltern mein ich, aber ich kann sehen wie wie sehr es sie schmerzt mich so zu sehen. Und ich denke an all die Besuche die ich versäumt habe, die verpassten Geburtstage, all die abgebrochenen Telefongespräche und anderen Kontaktversuche, da ich gerade mit mir beschäftigt war und ich möchte sagen, dass es mir wirklich leid tut und ich sie doch auch liebe und ich einfach nicht darüber nachgedacht habe. Dann fällt mir ein, dass es alles nichts bringt. Der Moment in dem es gezählt hätte, ist vergangen, weg und er kommt nie wieder.
Da helfen auch die vielen Trophäen nicht viel.
Am Ende gibt es nur den Moment. Alles andere ist nur Wunschdenken.
Ich werde nicht versuchen noch einmal mit ihr Kontakt aufzunehmen. Ich meine, was soll ich ihr sagen? 'Hey, wie geht es dir, was hast du das letzte Jahrzehnt so getrieben? Oh wirklich? Ja, ich war im Fernsehen und jetzt habe ich einen Anfall von todkrank, aber nichts Ernstes, haha. Was macht deine Freundin? Seid Ihr jetzt verheiratet?'
Großartig, ja.
Nein, ich werde sie nicht anrufen. Außerdem möchte ich immer noch nicht, dass sie mich so sieht … Am Ende habe ich wohl doch nichts gelernt … hier ist das Geld für die Flasche. Legen Sie noch einen richtig billigen Fusel drauf. Oder zumindest das Billigste, was Sie haben.
Mal sehen ob sich damit die Geister vertreiben lassen, eh?“
„Hier bitte, Sir.“
„Danke. Behalten Sie den Rest. Hmm, liest sich sehr stark. Ich habe Scrooge ja immer darum beneidet, dass er von einer Nacht auf die nächste mal eben ein ganz anderer Mensch werden konnte. Wahrscheinlich ist er nur zwei Monate später wegen der ganzen Aufregung an einem Schlaganfall verstorben. Tja … gute Nacht.“
„Gute Nacht, Sir.“
Mehr sprachen sie nicht miteinander, aber der dünne Mann blieb trotzdem noch eine Weile, um das Ende des Filmes zu sehen. Wie immer konnte einem der Geist der zukünftigen Weihnacht Alpträume bereiten. Der Dünne verzog jedoch keine Miene als er die Bar verließ und wieder in der Nacht verschwand. Das Trinkgeld war, wie letztes Jahr, recht üppig ausgefallen.
Dieses Mal sparte Samuel es.

*​

Zwei Tage später hatte der Mann Post. Darunter befand sich eine Kleinigkeit als Geschenk und eine Einladung zu einer Hochzeit im nächsten Jahr.
Nach zwei weiteren Tagen traf er eine Entscheidung.
 

Zelon Engelherz

Wachritter des Helm
Registriert
20.09.2004
Beiträge
2.112
Das Wort​

"Du bist echt NETT, aber-"
Diesen Satz hatte er in den letzten Jahren so oft immer wieder zu hören bekommen, dass er inzwischen jegliche Bedeutung verloren hatte. Dann war er dieser Frau beim speeddaten begegnet. Jetzt saß sie ihm gegenüber und sie war nun auch nicht hässlich oder dumm, weder zu klein noch zu groß und hatte auch eigene Interessen und einen Freundeskreis und wusste was sie vom Leben wollte.
Eine bodenständige, nette, junge Frau also.
Da war es schon wieder. Das böse Wort.
Nett.
Gott, wie sehr er es hasste.
Sie redete weiter. Irgendwas über Marktforschung, Social Media, halt viel mit Medien. Alles hochinteressant und wirklich schlau. Warum machte sie selbst das nur kein Stück interessanter?
Sie redete weiter. Gewalt im Feminismus, Gleichberechtigung der manipulativen Medien, sexistische Hamburger, warum depressive Clowns einen glücklich machten.
Moment, da stimmte was nicht. Er glaubte, dass er da was durcheinander brachte.
Seit wann machten Clowns einen überhaupt glücklich?
Seinen Gedanken drifteten ab. War er das auch für andere Frauen? Fühlten sie dasselbe? Dieses vage Gefühl der Sympathie, mit dem man gut mit allen anderen gut auskam und das wohl auch den größten Teil des öffentlichen Friedens sicherte? Statistisch gesehen war das nicht unwahrscheinlich.
Nicht, dass man sich nicht mit ihr unterhalten konnte, sie bewies ja genau das Gegenteil. Geschmack hatte sie auch. Es war nur ... in der Zeit hätte er sich inzwischen zwei Folgen von The Crawling Living gönnen können. Seine Wäsche müsste auch endlich mal gebügelt werden und vielleicht war Mister Snuggles, die Nachbarskatze, mal wieder aufgetaucht. Es würde ihn immerhin einen Vorwand liefern um seiner Besitzerin zwei Minuten ihrer Zeit zu stehlen. Auch so eine Frau, die ihn wohl "nett" fand, aber wohl lieber weiterarbeiten würde. Früher hatte er davon fantasiert, dass sie ihn zu sich in ihre Wohnung einlud, mit allen aufregenden Details.
Heute reichte es ihm, dass sie ihren Zucker so großzügig mit ihm teilte.
Nächstes Gesprächsthema: Thrones of Iron.
Die Serie schlechthin.
Das Großereignis.
Eine Franchise so groß, dass man dem Autor alle Rechte abgenommen und verkündet hatte die Bücher übere mehrere Jahrzehnte hinweg mit unzähligen Spin-Offs fortzusetzen. Er liebte diese Serie, ihre endlosen Intrigen und die brillant inszenierte Action.
Sie auch, aus den gleichen Gründen.
Leider.
Ein paar neue Aspekte wären interessant gewesen. Er hätte auch nichts dagegen gehabt, wenn sie sie scheiße gefunden hätte. Zumindest gab er ab jetzt er ein paar einsilbige Antworten von sich.
Die Medien waren schuld.
Und die Gesellschaft.
Nicht nur dass jeder etwas besonderes war, nein, sie hatten auch alle das Recht glücklich zu sein.
Irgendwo gab es ihn.
Den perfekten Menschen, der zu einem passte.
Denn trotz all dem Zynismus, mangelnden Idealismus und hier und da sich noch regenden Kommunalfaschismus - was auch immer das sein sollte - gab es doch bis heute immer wieder Beweise, dass die Liebe existierte und allem einen Sinn gab.
Er musste unbedingt seine Socken farblich trennen.
Sie sagte, dass sie gerne noch etwas trinken würde und bot ihn an ein neues Glas mitzubringen. Er nahm an. Ein Vorzug der Gleichberechtigung: er musste sich nicht bewegen. Ihm fiel wieder ein, dass der neue Besitzer, Samuel Johnson, diese Bar in das "Liebesnest" umbenannt hatte. Scheinbar ein privater Scherz den er sich da machte.
Ob die Handlung bei den Living heute endlich mal wieder voranschreiten würde?
Wahrscheinlich nicht.
Es erstaunte ihn kein bisschen wie sehr ihm das inzwischen am Arsch vorbeiging. So wie ihm eigentlich alles inzwischen am Arsch vorbei ging. Dabei fühlte er sich nicht sonderlich ausgebrannt, depressiv oder zornig auf die Welt. Nicht einmal ein kleines bisschen resignativ. Ihm kam es nicht einmal in den Sinn sich aufzuregen. Das einzige was ihm wirklich nicht behagte war ihr sagen zu müssen, dass das nichts mit ihnen würde.
Schließlich war sie wirklich nett und niemand war gerne der Böse.
Darauf lief es am Ende hinaus: es würde ihm einfach Ungemach bereiten, seine kleine perfekte Ordnung stören, die er sich in all den Jahren aufgebaut hatte.
Das Daten war ein kleiner Nervenkitzel für zwischendurch, der Versuch etwas frischen Wind in sein Leben zu bringen. Er machte sich da keine Illusionen, er brauchte wirklich niemanden an seiner Seite, wenn er seine Freunde, sein Konto und das Internet hatte, aber so eine Beziehung ... so eine Beziehung wäre schon nett.
Verdammt.
Letztendlich littt er am Ende wohl massiv an einer Überdosis "First-World-Problems".
Sie kehrte zurück. Er wappnete sich für weitere Monologe, schließlich war die Nacht noch jung. Aber dann erlöste sie ihn.
"Hör mal, du bist wirklich nett ABER-"
Er setzte eine besonders traurige Miene auf, um ihr nicht das Gefühl zu geben geringgeschätzt zu werden. Ihr schlechtes Gewissen schien schließlich wirklich aufrichtig zu sein. Zum Glück war die Verabschiedung schnell. Sie zahlten getrennt und gaben sich noch förmlich die Hand, ehe sie ihrer Wege gingen. In der U-Bahn freute er sich schon auf seine Couch, als er eine weitere Nachricht erhielt.
Von der promovierenden Politikstudentin. Stimmt ja, die gab es ja auch noch.
Sie hatte übermorgen keine Zeit und musste im nachhinein sogar sagen, dass sie das Date für keine gute Idee hielt, es täte ihr Leid, blablabla.
Längerer Text, gleicher Inhalt.
Er antwortete kurz und löschte ihre Nachricht gleich darauf. Ihre Absage bedauerte er ein wenig, da er sie wesentlich attraktiver als seine Bekanntschaft aus der Bar fand, aber es hielt nicht lange an.
Immerhin brachte er so zumindest die Staffel schneller zum Abschluss.
Das war ja schließlich auch nett.
 
Zuletzt bearbeitet:
Oben